Von Reimer Eck©, Leiter der Benutzungsabteilung der SUB Göttingen
Unbearbeitetes Manuskript eines Vortrags, gehalten am 15. August 1999 in der Paulinerkirche
in Göttingen im Rahmen der Vortragsreihe zur Ausstellung:
Der gute Kopf leuchtet überall hervor - Goethe, Göttingen und die Wissenschaft.
Stand 18.08.99.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde, Benutzer und Mitarbeiter der
Göttinger Bibliothek,
als ich mich vor einigen Wochen spontan bereit erklärte, im Rahmen dieser
Vortragsreihe ein Sommerloch zu füllen, und über die in der Ausstellung
dokumentierten Benutzungsfälle hinaus über den Fernleihbetrieb zwischen
Weimar und Göttingen im 18. Jahrhundert zu sprechen, war mir eigentlich nur
eins gegenwärtig, nämlich ein Ausspruch des Göttinger Bibliothekars Christian
Gottlob Heyne über Goethe als Benutzer.
Ich erinnerte mich dunkel: Goethe hatte einmal über Herder nach Göttingen eine
schlecht bibliographierte Bestellliste geschickt, und der berühmte Bibliothekar
hatte postwendend empört zurückgeschrieben:
Der gute Mann (nämlich Goethe) hat die Titel so unbestimmt angegeben, daß
ich nicht zu helfen weiß. Die Herren machen es wie Pharao: man soll den
Traum nicht nur auslegen, sondern auch noch erraten, was man geträumt
hat. Ich lass´ bitten, die Zitate genau nachzusehen und anzugeben.
Dies ist nun der klassische Stoßseufzer eines Auskunftsbibliothekars, wie er auch
heute noch täglich in Bibliotheken gedacht, wenn auch nicht immer so deutlich
ausgesprochen wird. Mit unzulänglichen bibliographischen Angaben ringen
täglich unsere Informationsabteilung, der Signierdienst im Zentralkatalog und last
not least auch unsere Mitarbeiter in den Schnelldiensten, denn auch längst nicht
jede elektronisch eingehende Bestellung hat bibliographisch Hand und Fuß.
Mancher blauäugig über das Internet bestellte Text ist am Ende gar nicht
vorhanden, oder so nicht zu finden. Da scheint es sinnvoll, diesen vergessenen
Benutzungsvorgängen einmal nachzugehen, zumal die hier anklingenden
Probleme zwischen Benutzer und Bibliothekar ja einige Aktualität zu haben
scheinen.
Zunächst sei ein kurzer Exkurs in die Geschichte der Entstehung der
Benutzungsordnung der Göttinger Bibliothek und des entsprechenden
Fernleihparagraphen erlaubt. Der mehrfach im 18. und 19. Jahrhundert fast
unverändert abgedruckte Teil der Göttinger Bibliotheksordnung von 1763 ist ganz
deutlich, und ich zitiere aus dem Auszug der von Königlicher Geheimen
Raths=Stube de dato Hannover den 28ten Oktober 1782 gemachten
Bibliotheks=Gesetze, hier heißt es unter § 12:
Ausserhalb Göttingen werden gar keine Bücher verliehen.
War denn Fernleihe im 18. Jahrhundert überhaupt zugelassen? Eigentlich nicht,
aber Ausnahmeregelungen waren offensichtlich möglich.
Ausserhalb Göttingen werden regulariter gar keine Bücher verliehen, am
allerwenigsten Manuskripta oder Bücher von äusserster Seltenheit.
Damit ist das Tor zur Fernleihe schon geöffnet. In der Fernleihpraxis des späten
18. Jahrhunderts, von der hier zu reden ist, war die Fernleihe zwar durchaus eine
Ausnahme, die jeweils vom Leiter der Bibliothek zu genehmigen war. Trotzdem
entstand, wie wir sehen werden, gerade mit der Weimarer Gelehrtenrepublik ein
reger halboffizieller Fernleihverkehr, neben dem noch ein weiterer, inoffizieller
bestand, indem Göttinger Professoren schlicht Bücher für das Semester von der
Bibliothek liehen um sie dann an Freunde und Bekannte nach ausserhalb
weiterzuschicken. Die hier gezeigte Ausstellung dokumentiert derartige
Entleihungen von Lichtenberg und Sartorius für Goethe.
Herders überlieferte Korrspondenz mit dem Göttinger Altertumswissenschaftler
und Bibliotheksdirektor Christian Gottlob Heyne beginnt mit einem in meinen
Augen bemerkenswerten Dokument. Im Februar 1772 ist Herder auf der
Durchreise von Darmstadt nach Bückeburg um dort seine erste Stelle als
Hofprediger und Superintendent anzutreten. In Göttingen hat er sich für eine
Woche eingemietet, um auf der Bibliothek zu arbeiten, und um Heynes
Bekanntschaft zu machen. Herder schreibt nun an Heyne:
Könnte ich nicht, hochgeschätzter Freund, vom Katalog der Bibliothek in
Ihrem Namen heute Nachmittag auf ein paar Stunden die Theile haben, die
Monumente, Anfang der alten Geschichte und Mythologie enthalten. Mir
und den Bibliothekaren würde Alles unendlich erleichtert.
Leider weiß ich nicht, ob dieser kühnen Bitte entsprochen wurde, sicher ist aber,
daß Herder von diesem Zeitpunkt an bis zu seinem Tode im Jahr 1803 zu den
fleissigsten Benutzern der Göttinger Universitätsbibliothek zählt, obwohl er
Göttingen nie wieder gesehen hat, sondern zunächst in Bückeburg, ab August
1776 dann in Weimar lebte.
Um Herder Ihnen als Benutzer der Göttinger Fernleihe noch einmal deutlich vor
Augen zu führen, erlauben Sie mir bitte einige weitere Zitate, die auch heute an
Aktualität nicht eingebüsst haben, ja eigentlich unsere tägliche bibliothekarische
Arbeit immer noch treffend beschreiben.
Es folgen also Auszüge aus der Korrespondenz zwischen einem Göttinger
Bibliothekar und einem überaus eifrigen, oft aber doch säumigen Benurtzer der
Göttinger Fernleihe.
... Ich habe diese Monate unglückselig zu Arbeiten gehabt, und sammle jetzt
im Ernst zum vierten Teil der Ideen. O daß ich doch bei Ihnen in Göttingen
lebte! hier fehlts mir allenthalben.
Und nun läuft der Herzoglich-Weimarsche Oberkonsistorialrat und berühmte
Kanzelprediger zu großer Form auf:
Ich beschwöre Sie, lieber Meyer (so fängt der Egoismus an), ich beschwöre
Sie beim heiligen Kreuz, von dem gehandelt werden soll, und bei allen
barbarischen Völkern, die es angenommen haben, unter denen auch die
Deinigen waren, Du ungläubiger Hamburger, ingleichen bei allen Heiligen
den Sanct Ansgarius nicht zu vergessen, daß, wenn ich im Drange der Noth
und in den Fluten des Elendes um ein Buch aus Ihrer Bibliothek flehentlich
bitten werde, Sie mir solches nicht versagen, mich auch nicht warten lassen
und alle Unbequemlichkeiten verachten: überzeugt und wissend, daß ich die
Bitte nicht thäte, wenn ich sie nicht tun müßte, und eben so gewiß, daß sich
alle Märtyrer und Seelen über Ihre Dienstwilligkeit freuen und Sie dafür mit
mancherlei Gutem belohnen werden. Ainsi soit-il. Amen. Amen.
Selbstverständlich erreichen mich qua Amt auch heute noch derartig
wohlbegründete dringende Bitten um Unterstützung der laufenden
wissenschaftlichen Arbeiten, oft jetzt per E-Mail. Allerdings fehlt diesen
Ergüssen meist die überzeugende Herdersche Wortgewalt. In der Form eines
Gebets, ainsi soit´il. Amen, Amen hat sich noch kein Benutzer an mich gewandt.
Trotzdem bemühen wir uns natürlich ständig, diesen bisweilen dramatisch
vorgetragenen Bitten auch unter Einsatz des Skanners und des Internet prompt zu
entsprechen.
Schließlich vertröstet Herder in diesem Brief den jungen Bibliothekar noch wegen
einer Reihe noch nicht zurückgegebener Bücher:
Die meisten mir übersandten Bücher, Johnson, der Bauernflegel mit seinen
groben fine speeches, Gilpins, den ich beim zweiten Lesen sehr lieb gewonnen
habe, und der hier zwei anderen, einer Leserin und einem Leser, viel Freude
gemacht, auch der arme Tropf Whiston kommen mit der nächsten fahrenden
Post gesund und wohlbehalten zurück, und werden Ihnen, jeder mit einer
Reverenz nach seiner Weise für die Mission artigst bedanken. Der Cancionero
ist ein Schatz, an den ich noch nicht gerührt habe; die Göttin der
Nothwendigkeit hat noch immer; Nein, gewinkt. ...
Am 12. Dezember waren die genannten Bücher immer noch nicht aus Weimar
zurück. Besonders James Boswell: A Journal of the Tour of the Hebrides with
Dr. Samuel Johnson ... London 1785 hatte es Herder wohl angetan. Meyer hatte
das Buch am 2. Oktober 1786 in den GGA rezensiert, am 8. Juli 1787 mußte er
es auf Herders Drängen aus den Händen langsamer Leser reißen. Der
Cancionero, eine sehr seltene frühe Sammlung spanischer Romanzen ist über
Jahre in Weimar geblieben.
So ist es durchaus verständlich, daß Mayer am 12. Dezember 1787 an Herder ein
Mahnschreiben schickt. Während Herder ein Gebet an den Göttinger
Fernleihbibliothekar gerichtet hatte, wählt Meyer nun die Form einer Rezension:
Indessen bin ich doch dran, eine Recension wider Sie zu machen, die aber
nicht gedruckt werden soll, auch sich keinem Auge der Welt zeigen, als dem
Ihrigen, und die lautet so:
Der gute Meyer ist der deutschen Zunge also ebenfalls durchaus mächtig und
beschreibt mit dieser fingierten Rezension gegen Herder ausserordentlich treffend
die Situation des Göttinger Benutzungsleiters. Nichts hat sich seitdem geändert.
Die Erfolgsquoten der Bibliothekare mögen zwar mit der Einführung der
Individualsignatur und schließlich der elektronischen Kataloge im Laufe dieses
Jahrhunderts grösser geworden sein, aber der Custos, oder Leiter der
Benutzungsabteilung auf der Bibliothek ist sicher immer noch der geplagteste
Mann in Göttingen.
Der erste Fall der Nutzung eines Göttinger Buchs durch Goethe, den ich den
zeitgenössischen Akten und Korrespondenzen entnehmen konnte, fällt in das Jahr
1783. Am 9.November schreibt der Jenenser Professor der Orientalistik Johann
Gottlob Eichhorn an Herder in Weimar:
Ich habe Herrn Geheimrath von Goethe Jones´ Moallakât versprochen,
vielleicht mögen Sie liebster Herder, das Buch durchblättern. Ich sende es
daher Ihnen mit der Bitte, es dem Herrn Geheimerath zuzustellen. Das
Exemplar gehört nach Göttingen und ich soll eine Anzeige machen. Jetzt habe
ich zum Lesen des Buches ohnehin keine Zeit: wenn ich es also nur in vier,
fünf Wochen wiederhabe, ist nichts versäumt.
Was geht hier vor? Der Jenenser Orientalist Eichhorn hat vom Redakteur der
Göttingischen Gelehrten Anzeigen, Christian Gottlob Heyne, ein
Rezensionsexemplar der gerade in London zweisprachig erschienenen frühesten
arabischen Gedichtanthologie erhalten.
Der durch seine Bemühungen über die Arabische Poesie bekannte Jones hat
die Moallakat oder die 7 Gedichte der 7 großen arabischen Dichter die in der
Moschee in Mekka aufgehängt sind mit einer Englischen Übersetzung
herausgegeben. ... Wir haben uns vorgenommen sie in Gesellschaft zu
übersetzen, also wirst Du sie auch bald zu sehen kriegen.
Die Übersetzergesellschaft, bestehend aus Herder, Goethe und v. Seckendorf,
hat sich offenbar tatsächlich intensiv mit Jones Ausgabe der Moallakât
beschäftigt. Eine vollständige Übersetzung ist zwar nicht entstanden, von Goethe
ist allerdings eine Teilübersetzung aus dem Jahr 1783 handschriftlich überliefert.
Gern entsann er sich dieser frühen Beschäftigung mit arabischer Lyrik, als er in
den Jahren 1815 bis 1819 an die Arbeit am West-östlichen Divan ging. Hier sei
bemerkt, daß die Herren natürlich aus dem Englischen Text von Jones ins
Deutsche übersetzten, des Arabischen war man nicht mächtig. Eichhorns
Rezension von Jones Moallakât erschien schließlich am 8. März 1784 in den
Göttingischen Gelehrten Anzeigen.
Der hier geschilderte Fall der Weimarer Benutzung eines Göttinger Buchs ist
freilich noch kein Fernleihfall im engeren Sinne, da es sich ja um ein nach Jena
geschicktes Rezensionsexemplar handelt. Exemplarisch aber ist die erweitere
Nutzung der Neuerscheinung durch den Weimarer Kreis. Derartige Fälle des
Mitlesens und Mitbenutzens bis hin zur Weitergabe an eilige Übersetzer sind
besonders für Herders Entleihungen öfter belegt. Auch Goethe hat später gezielt
Bücher zur Lektüre in seinem näheren Bekanntenkreis aus Göttingen bestellt.
Für einen Teil der von Herder aus Göttingen entliehenen Bücher dürfen wir sicher
von einer stillen Goetheschen Mitbenutzung ausgehen.
Aber verzeihen Sie mir meine kühne, kühne Bitte, daß ich Sie mit einem
bettelnden Zettel beschwere.
Der bettelnde Zettel, der die von Goethe gewünschten Buchtitel enthielt, ist wohl
nicht mehr vorhanden. Sicher ist aber, daß Goethe aus Göttingen Bücher erhalten
hat, denn am 23. Juli - also etwa fünf Wochen später -, kurz vor seiner Flucht
über Karlsbad nach Italien hat Goethe seinen Diener Seidel angewiesen, die
Göttinger Bücher zurückzuschicken. Nachdem er schon einige Monate in Italien
aufgehalten hat, am 13. Januar 1787 schreibt Goethe dann aus Rom an Heyne
eine kurze Notiz, in der er seine Dienste in Rom anbietet. Weiter heißt es:
Ich hoffe, die mir übersendeten Bücher werden glücklich wieder
angekommen sein.
Sich aus Rom der erfolgten Rückgabe von Göttinger Fernleihen zu vergewissern,
ist um diese Zeit in bestimmten Weimarer Kreisen durchaus üblich. Im November
1788 schreibt Herder einen ganz ähnlich lautenden Brief aus Rom an Heyne. In
seinem Fall war die Zahl der aus Göttingen entliehenen Bücher, die er vor seiner
Italienreise zurückgeben mußte, so groß, daß seine Gattin Caroline einen
Fuhrmann beauftragen mußte, um das entliehene Material sicher nach Göttingen
zurückzuschicken. Der normale Versand mit der fahrenden Post wäre sicher
außerordentlich teuer geworden. Am 22. August 1788 schreibt sie an Heyne:
Theuerster Freund,
Leider ist auch diese, offenbar sehr umfangreiche Bücherliste nicht überliefert.
Wie gesagt, wir wissen auch nicht genau, was Goethe im Sommer 1786 aus
Göttingen erhalten hat, dürfen aber wohl annehmen, daß es sich um geologische
oder biologische Abhandlungen gehandelt hat, denn die Forschung setzt Goethes
erste intensive Beschäftigung mit der Morphologie der Pflanzen gerade für den
Sommer 1786 an.
Der nächste Fall eines Fernleihversuchs Goethes bei der Göttinger Bibliothek ist
mit Abstand der interessanteste zumal er in der Goethe-Forschung wie in der
Bibliotheksgeschichte bislang kaum berücksichtigt wurde. Wieder einmal tritt
Herder als Vermittler für Goethe auf:
Mitte Mai 1792 überschickt Herder an Heyne den 4. Teil seiner Zerstreuten
Blätter ..., bittet um Zusendung des zweiten Bandes der Asiatick Researches,
einer von dem oben genannten englischen Orientalisten Jones in Calcutta
herausgegeben Zeitschrift, und, nachdem er noch geschickt den Apostel Paulus
mit Geben ist seliger als Nehmen bemüht hat, heißt es:
Göthe, der sich jetzt sehr mit der Optik abgibt, wünscht sehr beigeschriebene
Bücher, die nirgend hier anzutreffen sind, ansehen zu können. Sie verbänden
ihn sehr, bester, wenn Sie ihm solche auf einige Zeit zukommen ließen.
Wieder fehlt natürlich der leidige Bestellzettel Goethes, aber in diesem Fall haben
wir Christian Gottlob Heynes prompte Reaktion, die zumindest Verfasser nennt,
sodaß wir Goethes Leihwünsche mit Hilfe seiner Farbenlehre in etwa
rekonstruieren können. Ich komme also jetzt zu dem schon eingangs bemühten
Benutzungsfall. Am 17. Mai 1792 kam laut Heynes Eingangsvermerk der Brief
mit Goethes Wunschliste in Göttingen an. Schon am folgenden Tag, dem 18. Mai
schreibt der Göttinger Bibliothekar an Herder nach Weimar:
Die von Goethe verlangten Bücher erfordern baldige Antwort.
Heynes erster Satz zu Goethe als Benutzer mag aus heutiger
tagesbibliothekspolitischer Sicht als der wichtigste erscheinen. Einen Tag nach
Eingang des Leihwunsches kann er prompt reagieren. Sicher hat er Mitarbeiter,
wahrscheinlich den kundigen Unterbibliothekar Jeremias David Reuss,
eingeschaltet. Die Erfolgsquote ist zwar etwas dürftig, auf die Gründe werde ich
später eingehen. Wie wir sehen werden, kann er auf drei Bestellungen sofort ein
Buch zuschicken, auf die beiden anderen, wie wir heute sagen würden,
Negativmeldungen absetzen. Dies zeugt durchaus von einer ausgezeichneten
Qualität des Göttinger Benutzungsbetriebs im späten 18. Jahrhundert. Für Goethe
selbst entstehen lediglich die Portokosten, die fahrende Post brauchte nach
Weimar in der Regel drei, machmal zwei Tage.
Wie gut sind wir heute? Im September 1999, also im nächsten Monat wird in
Berlin mit einigem Pomp der Schnellbestelldienst subito 3 aus der Taufe gehoben
werden, an dem sich die Göttinger Universitätsbibliothek selbstverständlich
beteiligt. Subito 3 bedeutet, daß Einzelnutzer ohne Einschaltung ihrer lokalen
Bibliothek über das Internet direkt von ausgewählten Bibliotheken Bücher nach
Hause bestellen können. Der Standardservice verspricht Lieferung per Post oder
Negativmeldung innerhalb von drei Tagen. Für die Lieferung wird eine Gebühr
erhoben, die knapp die Postversandkosten, sicher nicht den Personalaufwand der
liefernden Bibliotheken deckt. Im vorliegenden Fall bietet die Göttinger
Bibliothek für Goethe also sogar einen 24- Stundendienst. Dies ist in subito 3
zwar auch vorgesehen, wird aber hoffentlich eine Ausnahme bleiben, weil ein
solcher Sonderservice kaum noch zu bezahlen ist. Sicher, in diesem konkreten
Goettinger Fall ist der Besteller kein geringerer als Johann Wolfgang von Goethe,
aber allein die Tatsache, daß ein solcher Sonderservice machbar war, zeugt
davon, daß der Dienstleistungsapparat wissenschaftliche Bibliothek schon vor
200 Jahren vergleichbares leisten konnte.
Der gute Mann hat die Titel so unbestimmt angegeben, daß ich nicht zu
helfen weiß. Die Herren machen es wie Pharao: man soll den Traum nicht
nur auslegen, sondern auch noch erraten, was man geträumt hat. Ich lass´
ihn bitten, die Zitate genau nachzusehen und anzugeben.
Alle drei genannten Autoren spielen in Goethes Farbenlehre eine prominente
Rolle. Was Goethe von dem italienischen Geistlichen Marcantonio de Dominis
sucht, ist dessen: De radiis visus et lucis in vitris perspectivis et iridice tractatus.
Venedig 1611. Offenbar besaß die Göttinger Bibliothek zur Zeit von Goethes
Anfrage tatsächlich nur drei theologische Werke von Marcantonio de Dominis.
Dieses naturwissenschaftliche Werk, das sich u.a. mit der Brechung des Lichts in
Gläsern und dem Regenbogen beschäftigt, wurde erst 1826 von der Göttinger
Bibliothek beschafft, wahrscheinlich unter dem Einfluß von Goethes Publikation
der Farbenlehre. Der Leihwunsch und die Hervorhebung der Bedeutung von de
Dominis optischen Experimenten in Goethes Werken führt hier also vielleicht zu
einer späten Lückenergänzung. Goethe selbst fand das Buch im September 1797
im Bestand der Weimarer Hofbibliothek und arbeitete es sofort durch, wie seine
Tagebucheintragungen beweisen.
Im Falle von Marat wird von Göttingen offenbar ein Buch nach Weimar
übersandt. Es handelt sich definitiv um: Découvertes de M. Marat (docteur en
médecine et médecin des gardes-du corps de Monsigneur le comte d´Artois) sur
le lumiere, constatées par une suite d´expériences nouvelles. Mit dem fingierten
Druckort London, eigentlich Paris 1780. Ich komme gleich auf Goethes intensive
Nutzung dieses Buches zurück.
Im Falle von Gauthier (wahrscheinlich hat Goethe den Namen schon falsch
geschrieben) schweigt der sonst so auskunftsfreudige Göttinger OPAC. Der
Verfasser kommt nicht vor. Allerdings hatte ich schon bei Marcantonio de
Dominis den Verdacht, daß die Göttinger Bibliothekare damals ihrer eigenen
Katalogkunst aufgesessen sein könnten. Heute soll das ja öfter vorkommen. Hier,
bei Gauthier ist es tatsächlich passiert. Das Werk das Goethe suchte, war in
Gö ;ttingen schon damals vorhanden, nur ist es im Katalog wegen der
eigenwilligen Publikationsform unter den Zeitschriftentiteln versteckt. Es handelt
sich um die anonym erschienenen: Observations sur l´histoire naturelle, sur la
physique et sur la peinture, ...Paris 1752. Heute befindet es sich wegen seiner
grossen Seltenheit und den interessanten Farbtafeln bei den Rara.
Im Falle von Gauthier hat Goethe schließlich andere Wege, als die Göttinger
Fernleihe nutzen müssen, um an seine Literatur zu kommen. Die Wege sind
verworren und mühsam, zeigen aber mit welcher Hartnäckigkeit der Forscher
Goethe sich um seine Literatur kümmert. Im November 1799 läßt er auf einer
Leipziger Auktion auf Gauthiers demonstratio errorum optica Is. Newtonis.
London 1750 bieten. (WA IV 14,216f.), erst im Juni des Jahres 1800 erhält er das
Werk, um festzustellen, daß es sich um eine ausgesprochen schlechte und
dilletantische Übersetzung aus Gauthier handelt. Am 23. September desselben
Jahres bittet er dann seinen Tübinger Verleger Cotta, ihm gegebenenfalls aus der
Tübinger Universitätsbibliothek Gauthiers Werk: Chroagénesie ou Géneration
des Couleurs, contre le systeme de Newton. Paris 1750-51 zu besorgen. Cotta ist
tatsächlich erfolgreich, Goethe liest das Buch im Januar 1801. Hier liegt also
eine Fernleihe aus der Universitätsbibliothek Tübingen vor. Das Leistungsangebot
der Göttinger Bibliothek ist folglich nicht einmalig, vielmehr waren Fernleihen
durchaus möglich; man vergleiche nur die Briefe Herders an Lessing als
Bibliothekar der Wolfenbütteler Bibliothek. Einige Wochen später bittet Goethe
den Tübinger Verleger auch noch um die Besorgung der angeblich in Göttingen
nicht vorhandenen Observations sur l´histoire naturelle. Ob er das Werk aus
Tübingen erhielt, ist nicht geklärt. Wahrscheinlich hat Goethe diese Arbeit
Gauthers später antiquarisch kaufen können, zumindest befand es sich in seiner
Privatbibliothek.
Nun zu dem Buch, das Goethe tatsächlich per Fernleihe im Mai 1792 aus
Göttingen erhalten hat, Marats sur lumiere. Der Verfasser ist kein geringerer als
Jean Paul Marat, der bekannte französische Revolutionär, der am 13. Juli 1793
von Charlotte Corday im Bade ermordet wurde. Wir sollten uns nun erinnern, daß
Goethe in Jahren 1792 bis 1793 zumindest in den Sommermonaten damit
beschäftigt war, seinen Weimarer Herzog, (der zugleich preußischer General
war,) auf den Feldzügen gegen die französischen Revolutionsarmeen in den
Rheinlanden und im lothringischen Grenzgebiet zu begleiten. Der Feldzug von
1792 fiel förmlich ins Wasser und endete mit der Kanonade von Valmy und
einem fluchtartigen, verlustreichen Rückzug der Reichsarmee. Im Sommer 1793
waren die deutschen Armeen dann erfolgreicher. Sie belagerten das von den
Franzosen besetzte Mainz und erzwangen nach längerem Artilleriebeschuß die
Räumung der Stadt durch das französische Revolutionsheer. Der nur begrenzt am
militärischen Geschehen beteiligte Zuschauer Goethe schrieb später über beide
Feldzüge autobiographische Aufsätze und hat während der Kämpfe seine
intensive Beschäftigung mit der Farbenlehre offenbar nie aus den Augen verloren.
So beschreibt er, wie er die Mauern der Mainz umgebenden Weingärten als
Kugelfang nutzt, um dahinter in Ruhe Bücher über die Farbenlehre zu lesen. Am
19. Juli 1793 schickt er seinem Freund Jacobi in Weimar eine Zusammenfassung
seiner bisherigen Forschungsergebnisse, darunter auch eine synoptische Tabelle
der Lehrsätze Newtons und Marats.
Ich habe mit Mühe und Anstrengung diese Tage die zwar ästimable, aber
doch nach einer hypothetischen, kaptiosen Methode geschriebene
Abhandlung Marats gelesen und mir die Hauptpunkte ausgezogen. Gib das
Blatt nicht weg, es enthält Lästerungen.
In derselben Juliwoche wird Marat, der ja das französische Revolutionsheer
ausgesandt hatte, in Paris ermordet. Wir spüren den Atem der Geschichte. So
etwas kann nur Goethe passieren, er studiert die naturwissenschaftlichen Werke
eines zum Revolutionspolitiker mutierten Mannes gerade als dieser ermordet
wird. Daß Goethe dabei nun auch noch ein Buch aus der hiesigen
Universitätsbibliothek liest, freut zumindest den Göttinger Bibliothekshistoriker.
Den Bibliothekshistoriker interessiert allerdings auch, wann der Marat
zurückgekommen ist, der da in den Mainzer Weingärten so intensiv studiert
wurde. Goethe hat das Buch volle zwei Jahre behalten. Am 18. Mai 1792 hatte
Heyne Marats sur lumiere nach Weimar geschickt, am 30. Juni 1794 schickt
Herder, auffällig kommentarlos, das Buch aus Weimar zurück. Also eine
durchaus ausgedehnte Fernleihfrist, eine spezielle Eigenheit Goethes die wir ja
auch bei den späteren nach 1801 erfolgten, hier in der Ausstellung präsentierten
Fernleihfällen beobachten können. So wird auch deutlich, warum Goethe so
freudig auf Lichtenbergs Angebot eingeht, ihm Bücher aus der Göttinger
Bibliothek zu beschaffen. Im Oktober 1793 also zeitgleich mit der offiziellen
Entleihung des Marat besorgt Lichtenberg für ihn ein weiteres französisches
Werk aus Göttingen, die meist anonym zitierten Observations sur les ombres
colorées, contenat une suite d´Expériences sur les differentes, couleurs des
ombres. ... Paris 1782. Also das Buch über die farbigen Schatten, das in der
Goethe-Lichtenberg Korrespondenz eine prominente Rolle spielt. Den offiziellen
Leihweg über die Direktion der Göttinger Bibliothek wagt Goethe erst wieder zu
beschreiten, nachdem er im Sommer 1801 in Göttingen persönlich vorstellig
geworden ist, bis ihm wegen seiner eigenwilligen Vorstellungen von einer
geregelten Leihfrist auch diese Quelle der Literaturbeschaffung wieder langsam
versiegt.
Wenn von indiskreten Menschen die Rede ist, welche die Ihnen gegönnte
Benutzung wissenschaftlicher Schätze mißbrauchen, so möchte Herr Oken
wohl durchaus den ersten Platz verdienen ...
Auf der Göttinger Bibliothek mag man über diese Rangfolge anders gedacht
haben.
Hier ist es Zeit aufzuhören. Das Argument meines heutigen Exkurses in die
Bibliotheksgeschichte: Goethe und Herder als Benutzer der Göttinger Fernleihe
liegt auf der Hand.
Bemerkungen zur Genesis des oft bemühten Goetheschen Diktums über die
Göttinger Universitätsbibliothek:
Man fühlt sich in Gegenwart eines grossen Kapitals, das ständig geräuschlos
unberechenbare Zinsen spendet.
Wer noch etwas Geduld hat, sei zur Lektüre es eines weiteren Exkurses
eingeladen. Zugleich mag sich so das stets gespannte Verhältnis zwischen Goethe
und Heyne erhellen, die ja auch bei Goethes Göttinger Besuch wohl nicht recht
warm miteinander werden konnten. Heynes, hier schon ofter bemühte
Bemerkungen auf den Leihwunsch von 1792 über Goethe als Benutzer zeugen ja
auch von einiger Gereiztheit, die rasche Reaktion innerhalb von 24 Stunden
erscheint zumindest übereilt.
Zitate nach: Herders Reise nach Italien. - Herders Briefwechsel mit seiner
Gattin, vom August 1788 bis Juli 1789. Herausgegeben von Heinrich Düntzer
und Ferdinand Gottfried von Herder. Gießen, 1859.
B. Suphan: Goethe und Herder von 1789 - 1795. I. Weimar oder Göttingen ? II:
Das Zerwürfnis 1795.In: Preußische Jahrbücher. 43. Bd. 1879. S. 85-100 u. S.
142-183.
Am 1. April hatte Herder in Rom (wieder einmal) ein Angebot Christian Gottlob
Heynes für eine Professur an der Göttinger Theologischen Fakultät erhalten.
Herder schwankt, mag sich nicht entscheiden und wägt in mehreren langen
Briefen an die Gattin zwischen Weimar und Göttingen ab. So führt nun die
Familie Herder Bleibeverhandlungen mit Goethe und Herzog Karl August in
Weimar und Berufungsverhandlungen mit Heyne in Göttingen aus der
Postkutsche auf der Rückreise von Rom.
Herder an Caroline
... Mich dünkt, ich werde durch öffentlichen Vortrag in Wissenschaften
vergnügter und munterer sein als durch Beichte etc.; denn jeder lebendige
Vortrag entwickelt mir neue Gedanken. Nach den Stunden ( und für mein
Gehalt darf ich nur vier lesen) bin ich mein eigener Herr und König: ich kann
schreiben und werde besser schreiben als bisher, weil in einer lebendigen Welt
des Gedankenhandels und Ausdrucks lebe;
Herder an Caroline Bologna, 31. Mai 1789
... Die Hauptsache ist, in Göttingen an einem Platz zu sein, wo ich für mich
selbst verdienen kann, nachdem ich fleißig bin und Glück habe. Das ersetzen
mir keine Titel, keine leeren Gnaden, keine 200 Thaler jährlich, bei denen ich
doch umkommen muß. - Ich will nur wie ein Manufacturer vom Fleiß leben.
Was ich brauche, ist eine Werkstätte; die ist in Weimar nicht.
Wir können davon ausgehen, daß Caroline diese Briefe Goethe, der sich beim
Herzog nachdrücklich persönlich für Herders Bleiben in Weimar und für die
notwendigen Gehaltserhöhungen und weitere Zusagen eingesetzt hat, lesen ließ,
oder sie ihm zumindest in Auszügen vorgelesen hat.
Als man damals (im Sommer 1789) mit meinem Mann unterhandelte, hier zu
bleiben, sahe man wohl ein, und verschwieg es nicht, daß die theologische
Fakultät in Jena ruiniert würde, wenn er nach Göttingen ging. Jetzt hat man
dies alles vergessen und glaubt seines Versprechens los zu seyn. Damals
stellte mein Mann Goethe vor, wie vorteilhaft ihm allein die
Göttinger Bibliothek seyn würde, um durch Schriften seinen
Kindern ein Kapital zu erwerben, da soviel ungebrauchte Schätze,
die nirgends in Deutschland seien, darinnen wären. Dies alles, sagte
Goethe, will Dir der Herzog durch die Kosten zur Erziehung Deiner Kinder
vergüten, und Du lebst hier ein vergnügliches Leben bei Deinen Freunden.
Das Argument des Herderschen Verzichts auf die Einkünfte spendende Göttinger
Bibliothek wird Goethe von Caroline im Jahr 1795 mit bemerkenswerter
Deutlichkeit unter die Nase gerieben, als es nun darum geht, vom Herzog die
Finanzierung der Ausbildung der zahlreichen Herderschen Kinderschar
einzufordern, eine Zusage die von Goethe und Herzog Karl August im Sommer
1789 etwas leichtfertig gemacht worden war, um Herder zu bewegen, den Ruf
nach Göttingen auszuschlagen. Einer der Kommentatoren dieser aufregenden
Verhandlungen der Familie Herder mit dem Herzog und Goethe nennt es Die
Wahrscheinlichkeitsrechnung über den Gewinn aus Schätzen der Göttinger
Bibliothek.
Der Briefwechsel zwischen Caroline Herder, die derartige unerfreuliche
Finanzgeschäfte ihrem Gatten gern abnahm und Goethe gewinnt im schließlich im
Herbst 1795 zunehmend an Schärfe. So heißt es unter anderem in einem Brief
von Caroline an Goethe vom 29. 0kt. 1795:
Einen Tag später wird dann Goethe bemerkenswert grob; aber auch in
unerfreulichen Amtsgeschäften erkennen wir noch den großen Dichter:
...Wie ich hiernach Ihre heftigen leidenschaftlichen Ausfälle, Ihren Wahn
als wenn Sie im vollkommensten Rechte stünden, Ihre Einbildung als wenn
niemand außer Ihnen einen Begriff von Ehre, Gefühl und Gewissen habe
ansehen muß, daß können Sie Sich vielleicht einen Augenblick vorstellen. Ich
erlaube Ihnen mich, wie einen andern Theater Bösewicht zu hassen, nur bitte
ich klar zu denken und nicht zu glauben daß ich mich im fünften Akt
bekehren werde.
Diese Streitigkeiten um das Ergebnis der Bleibeverhandlungen vom Sommer
1789 führen schließlich im Herbst des Jahres 1795 zu einem unerfreulichen Bruch
der langjährigen ausgesprochen freundschaftlichen Beziehungen zwischen Goethe
und Herder.
Schließlich hatte Goethe Herder aus Bückeburg in den Jahren 1775/76 aus
durchaus unerfreulichen Berufungsverhandlungen mit der Göttinger Universität
mit einer Berufung nach Weimar gerettet, ihm als 1783 ein Ruf an Herder nach
Göttingen erging, eine Gehaltserhöhung beim Herzog ausgehandelt und
schließlich im Sommer 1789 dem Herzog eine, wenn auch etwas wage
formulierte Zusage zur Finanzierung der Ausbildung der Herderschen Söhne
abgerungen.
Hier sei bemerkt, dass Herders Besoldung in Göttingen sicher schlechter gewesen
wäre, als in Weimar. Nur durch Fleiß im Lesen kostenpflichtiger Privatissima -
und der Andrang dürfte bei den in der Regel bettelarmen Theologen nicht groß
gewesen sein - oder durch den Fleiß der eigenen Feder hätte er sein später selbst
auf 1800 bis 2000 Thaler beziffertes Weimarer Jahreseinkommen erreichen
können.
Goethe müssen seit dieser Auseinandersetzung die Begriffe Göttinger Bibliothek
und Kapital wahrlich in den Ohren geklungen haben. Zwar benutzt er sie in den
90er Jahren per Fernleihe, mit bisweilen begrenztem Erfolg, wie wir gesehen
haben. Unbedingt überzeugt von der Leistungsfähigkeit der Göttinger Bibliothek
war er wohl nicht. Seine eigenen Bemühungen, die verschiedenen Bibliotheken
des Weimarer Herzogtums zu einer leistungsfähigen Einheit zusammenzufassen,
sind auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Erst der längere Besuch in Göttingen
im Sommer 1801 mit der für seine Farbenlehre so wichtigen Nutzung der
Universitätsbibliothek läßt ihn in den Tag- und Jahresheften jenes
unvergleichliche Goethesche Dictum niederschreiben, das immer wieder gern -
nicht nur in Göttingen - von Bibliothekaren bemüht wird. Hier sei es nochmals
deutlich gemacht: Goethe sagt dies über die Königliche Universitätsbibliothek zu
Göttingen:
Man fühlt sich wie in der Gegenwart eines großen Capitals, das geräuschlos,
unberechenbare Zinsen spendet.
Nach den oben beschriebenen Querelen mit der Familie Herder, könnte man
dieses Dictum allerdings durchaus auch ironisch auslegen. Spätestens seit dem
Sommer 1789 ist die Göttinger Bibliothek als Kapital in Weimar aktenkundig.
Die Herdersche Wahrscheinlichkeitsrechnung über den Gewinn aus Schätzen der
Göttinger Bibliothek dürfte Goethe im Sommer des Jahres 1801 noch immer
unangenehm in Erinnerung gewesen sein.
Ein kundiger Zeitgenosse aber beruhigt uns. Der Weimarer Gymnasialdirektor
und Goethefreund Boettiger, der, zeitgleich mit Goethe, Göttingen im Sommer
1801 kurz besuchte, schreibt am 27.Juli nach Weimar:
Goethe ist, von Pyrmont zurückgekehrt, in Göttingen und findet die dortige
literarische Schatzkammer, die er einst auslachte, immer ehrwürdiger.
Die Leistungsfähigkeit der Göttinger Bibliothek, von deren Beständen Goethe aus
verschiedenen Gründen offenbar gemischte Erwartungen hatte, hat ihn letztlich
nicht enttäuscht. Unterbibliothekar Jeremias David Reuss und seine Helfer gaben
dem prominenten Nutzer alle erdenkliche Hilfe. Der notiert in den Tag- und
Jahresheften:
Nicht allein ward mir was ich aufgezeichnet hatte vorgelegt, sondern auch
gar manches, was mir unbekannt geblieben war, nachgewiesen.
Die vor dem Aufenthalt in Bad Pyrmont auf der Bibliothek eingereichte
Wunschliste von fast 60 Titeln wird den Bibliothekaren reichlich Arbeit gemacht
haben. Sicher erst von Reuss nachgewiesen wurde Goethe das Vollständige
Färbe- und Bleichbuch von Gülich, Ulm 1779. Mit dem erläuternden Vermerk:
1. Band enthält die allerneueste Farbentheorie der Neutonschen Farbenlehre
entgegengesetzt. Der Eintrag ist von Reuss Hand; nähere Betrachtung des
Originals der Liste mag noch weitere Göttinger Bearbeitungsspuren aufdecken, so
meine ich auch noch eine Roetelstiftnotiz von Heyne zu auszumachen.
Wir dürfen folglich hier in Göttingen aufgrund der Qualität der Büchersammlung
und der Leistungsfähigkeit der damaligen Göttinger Informationsabteilung das
Goethe-Zitat cum grano salis an unsere Fahnen heften.
[Letztmalige Aktualisierung: 20.08.1999 / cl] |