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IV.Die Lesesozialisation und ihre Vermittler

1. Frühe Lesesozialisation in Familie, Kindergarten und Schule

Zu Beginn dieses Kapitels sollen die in der Lesesozialisation wirksamen Instanzen zunächst mit ihren Schwerpunkten und Einwirkungsmöglichkeiten skizziert, und anschließend ihre Auswirkungen auf die Lesesozialisation im Lebenslauf anhand der Interviewaussagen untersucht werden. Im folgenden wird von "primärer" und "sekundärer" Lesesozialisation gesprochen, um die unterschiedliche Vermittlungsintensität dieser beiden Sozialisationsebenen deutlich werden zu lassen.

Die primäre Lesesozialisation bereitet den Weg für das spätere Leseverhalten bzw. seine Habitualisierung in der Persönlichkeitsentwicklung. Sie weckt das Empfinden für die Notwendigkeit und Bedeutung des Lesens. Sozialisation ist ein wissenschaftlicher Grundbegriff, der nicht mit Erziehung gleich gesetzt werden darf, sondern auf die "Vergesellschaftung" des Individuums abzielt.[1] )

Jeder Mensch wird in eine Gesellschaftsstruktur hineingeboren, innerhalb derer er auf die "signifikant Anderen" trifft, denen seine Sozialisation anvertraut ist.[2] ) Diese "Anderen" modifizieren die Welt, die sie ihm vermitteln, wobei sie nach dem individuellen, gesellschaftlichen Standort und ihren eigenen, biographisch begründeten Interessen bestimmte Aspekte auswählen, unter denen sie die Regeln und Normen ihrer Gesellschaft an die späteren aktiven Mitglieder weitergeben. Solch ein "aktives" Mitglied einer Gesellschaft zu sein, heißt den Regelkanon dieser Gesellschaft zu übernehmen. Dieser Prozeß ist der einer Internalisierung, der Akzeptanz, und Verinnerlichung von Gruppennormen durch das Individuum.[3] ) Es handelt sich dabei um die grundlegende und allseitige Einführung des Individuums in die "Grundwelt" einer Gesellschaft oder eines Teils der Gesellschaft.[4] )

Die primäre Sozialisation ist die erste Phase, durch die der Mensch in seiner Kindheit zum Mitglied der Gesellschaft wird. Als sekundäre Sozialisation gilt jeder spätere Vorgang, der eine bereits sozialisierte Person in neue Ausschnitte ihrer Gesellschaft einweist. Die gesellschaftliche Welt wird für das heranwachsende Individuum so quasi doppelt gefiltert. Dieselbe Perspektive kann verschiedene Gefühle auslösen. Das heißt, ein Kind kann lernen, die Welt in verschiedener Weise zu betrachten, wobei zuerst die elterliche Sicht der Dinge vermittelt wird. Dabei ist zu berücksichtigen, daß für Kinder nicht nur kognitives Lernen während der primären Sozialisation bedeutsam ist, sondern auch die über Emotionen bestimmte Art und Weise, in der sie stattfindet.[5] ) Für das Kind ist ein Lernprozeß ohne Gefühlsbindung außerordentlich schwierig, da es die Rollen und Einstellungen der "Anderen" übernehmen und sich aneignen soll. Die primäre Sozialisation ist beendet, wenn sich die Vorstellungen des "generalisierenden Anderen" - und allem was damit zusammenhängt - im Bewußtsein des Kindes angesiedelt haben. Ist dieser Punkt erreicht, so gilt der Mensch als "nützliches Glied der Gesellschaft und subjektiv im Besitz eines Selbstbewußtseins seiner Welt".[6] )

Integrierter Bestandteil dieser primären Sozialisation ist die Lesesozialisation, die für die von mir Befragten bis zum Schuleintritt weitgehend durch die Eltern und die Familie geprägt wurde. Erst für die Kindeskinder der Befragten der ersten und vereinzelt für die Angehörigen der zweiten und dritten Generationen wirken sich auch die Einflüsse anderer sozialisierender Institutionen, wie z.B. des Kindergartens, noch vor dem Schuleintritt aus.[7] ) In der sekundären Sozialisation wird die zunächst erreichte Internalisierung vertieft und erweitert. Diese beinhaltet die institutionalen oder in der Institutionalisierung gründenden "Subwelten".[8] ) Ihre Reichweite und Eigenarten werden daher von der Art und dem Grad der Differenzierung der Arbeitsteilung und der entsprechenden gesellschaftlichen Verteilung von Wissen bestimmt.[9] )

Berger und Luckmann vertreten die Auffassung daß die Vermittler eben dieses Wissens in der sekundären Sozialisation in hohem Maße anonym sind, d.h. sie sind im Bedarfsfall austauschbar. Ein Lehrer ist ein Lehrer, welches Individuum ihn auch verkörpert, solange die Formalität erfüllt wird.[10] ) Diese Unpersönlichkeit, die dem Affektcharakter gesellschaftlicher Beziehungen weitgehend entspricht, hat zur Folge, daß der Inhalt dessen, was in der sekundären Sozialisation gelernt wird, mit viel geringerer persönlicher Belastung befrachtet ist als die Lerninhalte der primären Sozialisation.[11] ) Die mit steigendem Lebensalter abnehmende Bedeutung der Familie für die sekundäre Sozialisation ist ein normaler Vorgang,[12] ) der auch für das Lesen zu beobachten ist.

Das oben skizzierte Grundverständnis von Sozialisation wird von mir auf die Lesesozialisation übertragen, denn beide sollen dem gleichen Ziel dienen, ein Individuum in gesellschaftliche Normen zu integrieren. Innerhalb der kindlichen Sozialisation stellt die Familie immer noch die maßgebliche Vermittlungs- und Sozialisationsinstanz für das Lesen dar; ihr sind zunächst die anderen Vermittlungsinstanzen untergeordnet. Dies gilt sowohl allgemein für die Sozialisation als Normenvermittlung als auch für den speziellen Bereich der Lesesozialisation. Zur "Konstruktion" von Wirklichkeit gehört auch das Bildungssystem, dessen Institutionen - die Schulen - das Lesen als Fertigkeit an die Schüler vermitteln.

Für die Vermittlung der gesellschaftlich relevanten Kulturtechnik Lesen zeigt die Lesesozialisation am nachhaltigsten Wirkung in der Kinder- und Jugendzeit, ohne jedoch ein in sich abgeschlossener Prozeß zu sein; sie ist vielmehr lebensbegleitend entwicklungsfähig.

Die primäre Lesesozialisation wird in den ersten Jahren durch die Familie geprägt und vermittelt, wobei sie heute häufig von Kindergarten und Vorschule unterstützt und ergänzt wird. Während dieser ersten Phase wird das Interesse an Büchern und Druckmedien geweckt und ein den Normen entsprechender Umgang mit ihnen eingeübt. Der Anteil der Lesesozialisation an der gesamten Mediensozialisation korreliert mit dem formalen Bildungsniveau und den geistigen Interessen der Eltern. Im Anschluß an die Familie und den Kindergarten sind die vier Jahre der Grundschulerziehung die intensivste Möglichkeit inhaltserschließendes Lesen und den Umgang mit dem Buch und anderen Printmedien anzuregen, zu lehren und zu habitualisieren.

Die sekundäre Lesesozialisation beginnt von schulischer Seite her etwa mit dem Eintritt in die fünfte Schulklasse. In dieser Zeit soll das Leseinteresse vertieft und über die reine Sinnentnahme hinaus erlernt werden, einen Text auch kritisch zu erfassen. Die Schüler werden unter anderem auch an unterschiedliche Formen von Lesestoffen herangeführt, um eine souveräne Nutzung derselben im Alltag zu unterstützen. Zunächst verläuft die Lesesozialisation im schulischen Primärbereich parallel zur häuslichen Vermittlung, erhält dann aber in der sekundären Phase je nach Art des Schulbesuchs, der gewählten Aus- oder Fortbildung und der familiären Lese-Atmosphäre eine starke Eigendynamik.

Die Familie spielt im frühen Kindes- und auch im Schulalter eine wichtige Rolle als Vermittlungsinstitution für die Lesesozialisation. Diese findet im Rahmen der gesamten, jeweils familienspezifischen Mediensozialisation statt; ihr Umfang orientiert sich an den im Haushalt genutzten und zur Verfügung stehenden Medien. Übereinstimmend kamen die Forschungen der letzten Jahre immer wieder zu dem Ergebnis, daß das Vorleben innerhalb der Familie, also der Vorbildcharakter von Eltern und älteren Geschwistern, für das spätere Mediennutzungs- und damit auch für das Leseverhalten prägend sei. Bereits im innerfamiliären Rahmen, wie z.B. im frühen Kleinkindalter wird durch das gemeinsame Betrachten von Büchern, durch Vorlesen und Gespräche über den Inhalt und die Illustrationen, der Gebrauch gedruckter Medien gefördert. Eine Anteilnahme im Elternhaus an der schulischen Leseentwicklung kann die Basis für die spätere habitualisierte Nutzung von Büchern intensivieren. Zahlreiche Aussagen in den Interviews lassen darauf schließen, daß auch in Familien, in denen die Eltern nicht unbedingt regelmäßig lasen, dennoch ein positiv wirkendes Leseklima, eine dem Lesen gegenüber aufgeschlossene Atmosphäre geschaffen und so dem Kind eine bestimmte Wertigkeit des Umgangs mit Bücher und Printmedien vermittelt wurde.

Unter den gesellschaftlichen Bedingungen heutiger Kindheiten sind die jeweiligen Medienangebote maßgeblich daran beteiligt, in welchem Umfang Kindern der Zugang zu kulturellen Phänomenen einer Gesellschaft ermöglicht wird.[13] ) Bei der Nutzung entsprechender Medien übt das Kind nicht nur seine Fähigkeit, sich sprachlich zu verständigen (Mündlichkeit), sondern es werden dabei auch wichtige Voraussetzungen für den Erwerb der Schreib- und Lesefertigkeit (Schriftlichkeit) geschaffen.

In diesem Zusammenhang verdienen das Leseverhalten und die Mediennutzung der Familienmitglieder aller Altersgruppen besondere Beachtung. Fernsehen und Bücherlesen werden dabei in der Forschung gleichermaßen als kulturelle Tätigkeiten angesehen, die in den Kontext personaler Interaktion eingebunden sind. Der Mediengebrauch manifestiert sich für Kinder als kulturelles Muster innerhalb der Familie, welches bestimmte Rollenverteilungen und Fähigkeiten zur Nutzung des Medienspektrums prägt.[14] ) Für die vorliegende Arbeit ist von besonderer Bedeutung, daß Bücher und Lesen im Unterschied zum Fernsehen in einer Durchschnittsfamilie kaum Gemeinsamkeiten stiften. Die Informationsvermittlung und auch die Unterhaltungsfunktionen werden in weiten Teilen vom Fernsehprogramm übernommen,[15] ) während das Lesen zu einer situationsabstrakten Tätigkeit geworden ist.[16] )

Die innerfamiliäre Mediennutzung wird von verschiedenen Faktoren bestimmt, wie Bildungs- und Sozialstatus, Personenzahl, Wohnverhältnissen und Medienangebot. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß es nicht lediglich von soziodemographischen Merkmalen, sondern auch von den internen Eigenschaften der Familie wie dem Familienklima, Rollen-, Gesprächs- und Erziehungsverhalten abhängt, welche Bedeutung das Fernsehen und damit auch das Lesen im familiären Alltag gewinnt.[17] ) Die Medienkompetenz, und damit auch das Leseverhalten von Kindern wird also entsprechend ihrer erwachsenen Vorbilder konditioniert. Unter dieser Voraussetzung sollte im Rahmen des von Bettina Hurrelmann geleiteten Projektes nach Indizien dafür gesucht werden, daß die interaktionalen Bedingungen, unter denen Kinder leicht und selbstverständlich zu Lesern von Büchern werden, immer seltener anzutreffen sind. Wichtigstes Resultat ihrer Untersuchung ist, daß das Fernsehen in der Familie zu der Medientätigkeit geworden sei, die hierarchisch geordnete, soziale Rollen am sinnfälligsten zum Ausdruck bringt. Diese soziale Rollenverteilung äußert sich darin, wer das Programm, den Zeitpunkt und die Fernsehzeitdauer bestimmt. Außerdem gilt für alle Familienmitglieder gleichermaßen, daß für das Fernsehen höhere Nutzungsfrequenzen ermittelt werden konnten als für das Buch.[18] )

In allen untersuchten Familien ließen sich in den Fernsehzeiten Altersdifferenzen unter den Kindern sowie Generationsgrenzen zwischen Eltern und Kindern deutlich erkennen, ganz im Gegensatz zu den Lesezeiten. Das heißt, Fernsehen läßt sich als ein Verhaltensbereich auffassen, in dem Alters- und Generationsrollen täglich symbolisch vermittelt werden.[19] ) Wohingegen das Bücherlesen offenbar keine derart rollensymbolische Aufwertung erfährt.[20] )

Hurrelmann weist nach, daß 70% der Kinder meistens allein sind, wenn sie sich mit einem Buch beschäftigen, daß etwa 16% der Kinder zusammen mit der Mutter lesen und daß etwa 50% der Vorschulkinder vorgelesen wird. Die Konstellation zwischen Kind und Vorleser entspricht aber nicht der typischen Selbstlese-Situation.[21] ) Das Lesen ist im Interaktionsgeschehen von "Kabelfamilien"[22] ) schwächer verankert, sie besitzen nicht nur weniger Bücher, es gab auch seltener Buchinteressen, die mehrere Familienmitglieder miteinander teilen.[23] ) Unterschiede in der Zeitstruktur der Eltern werden für die Kinder nur in Bezug zum Fernsehen erfahrbar, nicht im Bereich der Buchlektüre.[24] ) Die Interview-auswertung wird zeigen, daß auch in der Lesesozialisation meiner Informanten die Mütter häufig eine wichtige Funktion in der Lesesozialisation einnahmen.

Da Kinder heute aber nicht nur in der Familie, sondern vermehrt auch in Spielgruppen oder Kindergärten betreut werden, liegt hier die Möglichkeit einer positiven Beeinflussung notwendigerweise auch der Lesesozialisation. Die außerhäusliche primäre Lese- und Mediensozialisation hat vielfältige Möglichkeiten, intensiv zu vermitteln und eventuelle soziale Nachteile positiv auszugleichen. Ein selbständiger Umgang mit Druckmedien kann bereits im Kleinkind- und Kindergartenalter und damit vor der Schule internalisiert werden. Auch eine Steigerung der Lesemotivationen ist auf diese Weise denkbar, so daß der Umgang mit Büchern relativ früh als ein für die eigene Person relevantes Handlungsmuster angenommen werden kann. Dabei steht im Vorschulalter oft noch die Normenvermittlung für den Gebrauch von Büchern im Mittelpunkt. Dies bedeutet zunächst die Aneignung des richtigen Umgangs mit Büchern in dem Sinne, daß ein Buch nicht angekaut, nicht zerrissen, nicht bemalt oder verknickt werden soll. Mit einem Buch setzt man sich ruhig hin und betrachtet es, allein oder mit mehreren. Wird vorgelesen, so müssen die Zuhörenden still sein. Je nachdem, wie intensiv die Beschäftigung mit Printmedien zu Hause ist, und auch abhängig davon, wie lange ein Kind täglich "fremd" betreut wird, ist die potentielle Einflußnahme der "zweiten Erzieher" auf die Medien- und Lesesozialisation mehr oder weniger intensiv. Der Einfluß des Elternhauses und der das Kind ergänzend betreuenden Instanzen ist in der primären Sozialisation, also bis zum Ende der Grundschulzeit, unvermindert wichtig. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund, daß Kinder und Jugendliche heute bereits im Elementar- und Grundschulalter elektronische Medien in ihre Lebenswelt integrieren. Für die Älteren ist die Nutzung von Abspielgeräten, wie Kassettenrecorder, Walk-Man, Fernsehen, Video- und Computerspielen mittlerweile eine Selbstverständlichkeit.[25] )

Bezugnehmend auf die Tatsache, daß der Einsatz und Gebrauch von Medien in der Familie, das "Leseklima" im Elternhaus die persönliche Einstellung zum Lesen und somit auch die Lesemotivation bestimmt, stellte Fritz vor allem vier innerfamiliäre Einflußfaktoren fest, die fördernd auf das Leseverhalten in der Familie einwirken [26] ):

1. Positives Leseklima im Elternhaus

2. Positives Leseklima außerhalb des Elternhauses

3. Laissez-faire Leseklima im Elternhaus

4. Positives Leseklima außerhalb des Elternhauses in Verbindung mit Laissez-faire im Elternhaus.[27] )

Diese Erkenntnisse bestätigt auch die Bertelsmann Studie "Lesen im Medienumfeld."[28] ) In ihr werden fünf sozialisationsbedingte familiäre Ausgangssituationen herausgearbeitet werden, die das Lesen (von Büchern) positiv oder negativ prägen:

1. Die Lesesozialisation in einem kulturell-intellektuellen Klima.

2. Die gesteuerte Anleitung zum Lesen

3. Die eigene Eroberung der Bücherwelt und ein anregendes Leseklima außerhalb des Elternhauses

4. Die Sozialisation mit Massenmedien

5. Ein kulturelles und kommunikatives Vakuum während der Sozialisation.

Köcher[29] ) stellt in ihrer bereits erwähnten Untersuchung "Familie und Lesen" fünf Verhaltensmuster vor, die sich im Rahmen der innerfamiliären, praktischen "Leseerziehung" als prägend nachweisen lassen.

1. Leseerziehung durch Verführung

2. Leseerziehung durch Ermahnung

3. Bremsen der Lesefreude

4. Lesezensur

5. Abwertung des Lesens.

Für das Gesprächsverhalten und das Erziehungsverhalten in den Familien prognostizieren die Autorinnen der genannten Untersuchungen, daß in Zukunft die Medienerfahrung von Kindern mit unterschiedlichen familialen Voraussetzungen noch stärker auseinanderklaffen werden als dies schon bisher zu beobachten war, denn der Einfluß des Elternhauses ist zunächst stärker als der des weiteren sozialen Umfeldes. Es ist somit heute von einer eher instabilen Stellung des Lesens als Interaktionsform in der Durchschnittsfamilie - vor allem in sozial benachteiligten Familien - auszugehen.[30] )

Die innerfamiliäre Lesesozialisation ist weiterhin für die Verbindung von Lesen und Sprache bzw. Sprachschatzentwicklung von Bedeutung. Sprache ist ein wichtiges Mittel, um sich angemessen zu artikulieren, Gefühle schriftlich und mündlich auszudrücken und sich selbst in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Lesen ist dazu ergänzend eine Möglichkeit, gedruckte Sprache lebendig werden zu lassen.

Die Auswirkungen von Veränderungen in der Medienumwelt auf die familiäre Interaktion lassen sich, ebenso wie die Rückwirkungen eines veränderten Mediengebrauchs, nur abschätzen, wenn alle Sozialisationsbedingungen bekannt sind.[31] ) Der häufig bemühte "soziale Status" ist ein relativ grober Indikator für das interne Interaktions- und Kommunikationsgefüge einer Familie. Analysen können nur auf der Basis der Kenntnisse der inneren Lebensbedingungen, wie Familienklima, Gespräch-sverhalten und Erziehungsverhalten, erstellt werden. Diese interaktionsbezogenen Familienmerkmale sind zwar auch durch schichtspezifische Einflüsse geprägt, es kommt ihnen aber außerdem ein eigenständiger Erklärungswert für die individuelle Mediennutzung der Familien zu.

Das Erlernen des Lesens und seine spätere - wie auch immer geartete - Habitualisierung im Leben ist ein Vorgang sehr persönlicher Art. Trotzdem vermag man in den Leserkarrieren und Lesertypen durchaus Gemeinsamkeiten zu erkennen. Die folgenden Aussagen aus den lebensgeschichtlichen Interviews sollen veranschaulichen, daß sich in der Lese(r)Entwicklung durchaus kollektive Tendenzen, Regeln und Strukturen zeigen. Die Unterschiede zwischen den drei Lesergenerationen zeigen dabei, daß die Umstände von Lesesozialisation sich nicht auf Zeiträume von mehreren Jahrzehnten übertragen lassen. Zunächst skizziere ich dafür die Lesebiographien der Befragten und stelle im Anschluß daran auf der Basis der Interviewaussagen die jeweilige Spezifität der einzelnen Generationen heraus. Ich beginne mit der Lesesozialisation in den Familien.

1.1 Die Erinnerungen der Befragten zur eigenen Lesesozialisation

Die Situation in den Familien

Gut zwei Drittel der von mir Befragten aller drei Generationen stammen ihren eigenen Aussagen nach aus Elternhäusern und Familien, in denen grundsätzlich eine positive Einstellung gegenüber dem Lesen herrschte. Zahlreiche Eltern lasen selbst gerne oder haben zumindest in den von ihren Kindern bewußt wahrgenommenen Lebensphasen gelesen. Das restliche Drittel wuchs in Familien auf, die eher als lesefern zu bezeichnen sind.

Die Erinnerungen der ersten Generation (1929-1949) sind häufig von extremen Erfahrungen während des Dritten Reiches oder der Not der Nachkriegsjahre geprägt. Sie schildern die Situation ausgebombter oder geflüchteter Familien sowie die ersten Jahre des mühsamen wirtschaftlichen Aufstiegs, in denen es dann - oft nach allem anderen - erst wieder galt, Bücher für die Familie anzuschaffen. Die im folgenden zitierten Befragten der ersten Lesergeneration wuchsen in buchfreundlichen Verhältnissen auf, die ihr Leseverhalten stark prägten.

Beleg Frau F.(1933), Lehrerin: "Ich kann mich an keine Zeit ohne Bücher erinnern. Auf den Nachttischen meiner Eltern lagen Bücher, auf dem meines Vaters mehrere. Ich bin das zweite von sechs Kindern; uns wurde vorgelesen noch bevor wir sprechen konnten, denn wir hörten die Gute-Nacht-Geschichten für unsere älteren Geschwister mit. Bücher wurden als sehr wertvoll dargestellt, und auch Zeitungen - Zeitschriften gab es im Hause meiner Eltern nicht - durften nicht zerrissen oder durcheinander gebracht werden. Vorgelesen wurde mir, als ich klein war, von unserem Kindermädchen, meiner Großmutter, Patentante und Mutter; später von meiner älteren Schwester. Ich bin 1933 in Kiel geboren. Die Luftangriffe auf Kiel begannen bereits im ersten Kriegsjahr, und im Luftschutzkeller hat meine Mutter oft vorgelesen, bis "ihr der Mund fusselig" war. Aber die echte Vorlesekultur in unserer Familie begann erst mit dem Mangel an Büchern durch die Ausbombung und den kriegsbedingten Mangel an käuflicher guter Lektüre. Unser Vater las uns ganze Bücher vor, z.B. Ben Hur, Kampf um Rom, Nils Holgerson - ungekürzt. (...) Unsere eigenen Bücher stammten aus Geschenken und waren von unseren Vettern und Cousinen ausgeliehen. Auch meine Großeltern und Geschwister haben gelesen."

Sicherlich besaß Frau F.'s Vater als Lehrer konkrete Ambitionen in bezug auf das Lesen seiner Kinder, ebenso wie der Vater von Frau N. und Frau L., aber es soll bereits hier darauf verwiesen werden, daß das Engagement der Eltern für die Lesesozialisation ihrer Kinder von diesen nicht immer wie erhofft angenommen wurde.

Frau N.'s Vater leitete die Stadtbücherei ihrer Heimatstadt und legte großen Wert auf einen eigenen Bücherbestand und den seiner Kinder. Auf die Frage, ob die Bücher daheim frei zugänglich waren, führt seine Tochter aus:

Beleg Frau N.(1929), ehemal. Apothekenhelferin/Hausfrau: "Ja, frei zugänglich mit Maßen. Wir hatten den Kinderschrank, da waren unsere drin, dann gab es ein Bücherregal mit allem, was sich so angesammelt hatte, das war frei zugänglich. Aber mein Vater hat seinen Bücherschrank mit den Klassikern und den Kunstbänden und eben wertvollen Büchern verschlossen. Erst ziemlich spät, meistens wenn so etwas in der Schule gebraucht wurde, bekamen wir es ausgeliehen. Die Reclambändchen in unendlicher Zahl und auch Textbücher. Aber kein Lexikon. Kommentar meiner Schwester, als mein Verlobter in unser Leben trat, und mal was nachsehen wollte: 'Unser Lexikon kommt erst um halb neun.' Damit meinte sie unseren Vater."

Desweiteren berichtete seine jüngste Tochter von konfiszierten Büchern der Stadtbücherei, die ihr Vater im Keller der Familie versteckte. Dieser - die Familie durchaus gefährdenden - Bereicherung der heimischen Buchbestände, entnahm sie lange Zeit ihre Lieblingslektüren:

Beleg Frau L.(1930), Schneiderin/Hausfrau: "Meine Lieblingsbücher waren sämtliche Bände von Dr. Dolittle. Ich weiß nicht, wann die Bücher geschrieben wurden. Ich habe wohl so 1938 damit angefangen. Und 1939 wurden dann ja alle englischsprachigen Bücher und auch gerade die mit pazifistischen Tendenzen verboten. Diese Bücher wurden dann aus der Ausleihe genommen und durften nicht mehr ausgeliehen werden, zusammen mit Büchern von Kästner und mehreren anderen Autoren. Die hat mein Vater dann dort weggenommen und bei uns im Haus versteckt. Die hat er alle im Keller verstaut und die hat er dann tatsächlich nach Kriegsende 1945 alle wieder in die Bibliothek gebracht. Das waren dann auch unsere Lektüren gewesen und wir mußten die dann zum Teil wieder hergeben, wenn sie in die Bibliothek gehörten. Natürlich war das gefährlich. Er hat die ja immer in seiner Aktentasche nach Hause getragen. Und hat eben wenige in die Bücherverbrennung gegeben. Also der Dr. Dolittle war da und das war ein Buch das ich unheimlich gerne gelesen habe und auch immer wieder: 'Mrs. Beast pfeift'. Und es lief in der Tendenz natürlich völlig dem zuwider was wir bei den Jungmädeln lesen sollten. Und was wir dann so in der Schule erzählt kriegten oder vor allem als der Krieg anfing, das waren eben ganz andere Geschichten."

Buchfreundliche Atmosphären gab es aber bei weitem nicht nur in Akademikerhaushalten. Dies zeigt sich im folgenden Zitat. Herrn K.'s Eltern hatten als Inhaber einer großen Bäckerei in Breslau zwar selten Zeit, selbst zu lesen, schenkten aber ihren Söhnen gerne Bücher:

Beleg Herr K.(1934), gelernter Bäcker/Zollbeamter: "Ja, als Kind wurden Bücher geschenkt, natürlich nur zu Geburtstagen und zu Weih-nachten. Ich hatte schon nach den damaligen Vorstellungen Bücher. Wir hatten zu Hause die Berliner Illustrierte und dann die Münchner Illustrierte, daran kann ich mich erinnern, bis zum Krieg. Die hatten meine Eltern abonniert. Also das heißt, meine Mutter hat da mehr drin gelesen. Denn mein Vater war ja Bäckermeister und hatte zuerst zwei Gesellen und zwei Lehrlinge und die Gesellen waren im wehrfähigen Alter und wurden Soldaten, und da mußte mein Vater die beiden Gesellen ersetzen. Und da hat meine Mutter auch in der Bäckerei geholfen und eben die zwei Lehrlinge. Und abends mußte mein Vater noch die Bücher machen und die Marken kleben, denn sonst bekam er ja keine neue Ware. Und insofern habe ich meinen Vater wenig lesen gesehen. Wenn er zu Bett ging schlief ich schon, und wenn er aufstand schlief ich noch. Mein Vater hat gearbeitet oder eben die Buchhaltung gemacht."

Durch Buchgeschenke und die Existenz von Lesestoffen im Haushalt vermittelten Herrn K.'s Eltern ihrem Sohn offensichtlich Anregungen, die er häufig umsetzte. In Notzeiten bemühte Herr K.sich um die Ausleihe von Büchern, später kaufte er gerne Bücher für sich und seinen Sohn.

Die häusliche Atmosphäre, wie sie sich in den beiden obigen Zitaten widerspiegelt, wurde für die Befragten der ersten Generation auch davon bestimmt, daß die Eltern, vor allem die, die nach dem Krieg zunächst kaum mehr Buchbestände ihr eigen nennen konnten, sich darum bemühten, neue Bücher für die Haushalte zu kaufen. Symptomatisch dafür ist, daß Eltern von Lesern der ersten und zweiten Generation häufig Mitglied in Buchgemeinschaften waren. Hiervon profitierten auch die Kinder, weil sie auf diese Weise Buchgeschenke erhielten. Gründeten die Angehörigen dieser Generationen später einen eigenen Hausstand, traten sie oft selbst, zumindest vorübergehend, einem Buchklub bei (näheres hierzu in Kapitel V.).

In einer Großstadt wie Hamburg gab es zum Teil regelrechte Familienausflüge zum Ladengeschäft des "Deutschen Bücherbundes" am Ballindamm, wo sich auch die Kinder Bücher aussuchen durften.

Beleg Herr B.(1950), Bankkaufmann/Gewerbelehrer: "Ja, die Eltern waren im 'Deutschen Bücherbund'. Wir sind damals dann auch zusammen zur Filiale am Ballindamm gewesen und haben mit meiner Mutter dort Bücher gekauft. Da durften wir uns dann auch Kinderbücher aussuchen. Die wurden uns dann auch gekauft."

Die Vermittlung von Literatur und Sprache war in den Kriegsjahren aber nicht nur an den eigenen materiellen Buchbesitz geknüpft. Frau Z. schildert z.B. eine frühe Lesesozialisation ohne Bücher durch ihre Mutter. Diese hatte in ihrer Jugend eine umfangreiche Schulbildung und Musikunterricht genossen und mußte nach der Einberufung ihres Ehemannes die gemeinsame Landwirtschaft in der Nähe von Danzig bis zur Evakuierung nach Celle allein bewirtschaften.

Frau Z.'s Mutter hatte auf die Flucht mit sechs Kindern keinerlei Bücher mitnehmen können, sie wußte aber vergleichbare Situationen, die ihre Tochter als sehr gemütlich und lehrreich im Gedächtnis behielt, mit anderen Mitteln zu schaffen. Frau Z. leitet ihre Erinnerung damit ein, daß sie sich aufgrund dieser Anregungen mit 16 Jahren als erstes die Werke von Schiller kaufte:

Beleg Frau Z.(1940) Weberin/Hausfrau: "Ich bin also Schillerfan. Da habe ich die zehn Dünndruckbände noch stehen und eigentlich muß ich immer noch darüber lachen, daß ich damals als erste Anschaffung Schiller kaufte. Das hat seinen Ursprung darin, daß wir zunächst nach der Flucht nur eine Ein-Zimmer-Wohnung hatten. Und wenn wir abends alle im Bett lagen, dann hat meine Mutter uns diese langen Balladen und Gedichte aufgesagt. Wir hatten ja nichts zum Vorlesen. Und sie kannte aus ihrer Schulzeit alle diese Gedichte und sie kannte sie wirklich alle noch, und die sind ja sehr lang. Von daher konnte ich die wie, 'Des Sängers Fluch' von L. Uhland mit was weiß ich wieviel Strophen. (...) Besonders an diese Gedichte kann ich mich erinnern und auch an ganz bestimmte französische Sätze oder Sprüche, die sie aus der Schule noch wußte und an die Sachen von Schiller."

Nicht alle älteren Informanten der ersten Generation orientierten sich wie oben beim Erzählen an kriegsbedingten Ereignissen. Frau K.'s folgende Erinnerungen bewegen sich auf der rein persönlichen Ebene der Erzählorientierung. Ihre Mutter, die mit einem Berufssoldaten verheiratet war, mußte sich bis auf wenige Heimaturlaube ihres Mannes die gesamten Kriegsjahre über allein um die vier gemeinsamen Kinder kümmern. Als junges Mädchen betreute die Mutter Jahre in einem gutbürgerlichen Haushalt mehrere Jahre lang die Kinder, denen zahlreiche Bücher zur Verfügung standen . Sie bemühte sich in der Erziehung ihrer eigenen Kinder entsprechende Anregungen - soweit es ihre finanziellen Möglichkeiten erlaubten -weiterzugeben. Zugleich grenzte sie ihre Kinder durch das verordnete Lesen sozial von denen "auf der Straße" ab, die solange draußen spielen durften bis es dunkelte.

Beleg Frau K.(1935), Schmuckverkäuferin: "Bei uns wurde viel gelesen, besonders meine Mutter war sehr belesen. Wir waren ja vier Geschwister und wir sind alle mit einem Buch oder einer Menge Bücher groß und erwachsen geworden. Unsere Mutter hat uns immer sehr angehalten und auch unsere Großeltern. Also die mütterlicherseits, da hatte man viel Buchmaterial. Wir haben da in den Sommerferien oft gestöbert in den alten Bodenkammern, da waren Unmengen Bücher und zu unserer großen Freude durften wir das auch." Noch einmal zurück zu Ihrer Kindheit: Warum glauben Sie, hat Ihre Mutter die Kinder zum Lesen angehalten? Haben die Geschwister alle gleich viel gelesen? "Es war einmal von der Seite des Elternhauses meiner Mutter her, da wurde auch viel gelesen, sie kannte das von früher. Und außerdem wollte sie nicht so gerne, daß wir abends lange auf der Straße spielten. Wir sollten keine sogenannten "Straßenkinder" sein. Wir hatten auch immer Schwierigkeiten, während die anderen bis zum Dunkelwerden draußen bleiben durften, mußten wir zu einer bestimmten Zeit reinkommen. So sollten wir dann nochmal in ein Buch sehen und unsere Mutter hatte uns so auch ein bißchen unter Kontrolle. Wir drei ältesten Geschwister waren, wie meine Mutter manchmal sagte, 'richtig närrisch' mit Büchern. Aber unsere jüngste Schwester, die hatte es damals schon nicht so mit Büchern und sie hat auch heute nur ein begrenztes Interesse daran. Sie hat ja nun sehr viel Zeit, aber ihr liegt das wohl nicht so".

Zum Abschluß der beispielhaften Darstellung buchfreundlicher Atmosphären in den Elternhäusern der Informanten soll noch Herr Z. zu Worte kommen. Ich werde später noch auf ihn zurückgreifen, weil er zu den Kindern gehörte, die viel lasen, um lange Phasen des Alleinseins zu kompensieren, was in der folgenden Schilderung bereits anklingt:

Beleg Herr Z.(1932), Kraftfahrzeugmechaniker/Gewerbelehrer: "Ja, dann erinnere ich mich, daß ich zu Hause aus dem Bücherschrank der Eltern viel mir rausgesucht habe. Ich war häufig allein zu Haus, weil die Eltern beide gearbeitet haben. Ich bin praktisch ein Einzelkind, mein Bruder ist zwölf Jahre jünger als ich. Praktisch während meiner Kindheit war ich Einzelkind. Ich habe dann das, was mir da in die Finger kam, gelesen. Mein Vater war Mitglied in einem Buchklub und war naturwissenschaftlich interessiert und hat, na ja, halt wissenschaftliche Bücher, sich dort gerne und viel bestellt. Und auch, heute würden wir sagen, Science Fiction Romane. Und ich habe da wahllos rausgegriffen, was mir da interessant erschien und habe das alles gelesen." Die Bücher waren also auch für Sie frei zugänglich? "Ja, es gab keine Verbote was die Bücher betraf. Und dann kann ich mich erinnern, daß ich, wenn ich zu Bekannten kam - wir hatten Freunde in Harburg, die also auch lange Reihen von Büchern hatten - und ich weiß, das dort eine ganz lange Reihe von Hermann Löns stand. Und die habe ich mir dann immer gegriffen. Ich habe also dort in der Zeit alles, was es von Hermann Löns gab, z.B. gelesen." Haben denn Ihre Eltern gelesen? "Also, meine Mutter hat wenig oder gar nicht gelesen. Aber mein Vater der hat gern gelesen nach Feierabend. Er hatte ein großes Interesse an Büchern und am Lesen. Und als meine Mutter dann auch merkte, daß ich gerne lese, da habe ich immer mal Bücher bekommen. Also sie hat das sehr unterstützt."

Die Förderung des Lesens der Kinder korrelierte, wie es auch Herr Z. oben schildert, nicht immer damit, daß beide Elternteile selbst lasen. Allein die Tatsache, daß Bücher zur Nutzung vorhanden waren bzw. Vater oder Mutter vorlasen, unterstützte das Leseverhalten der Kinder häufig positiv.

Unter meinen Informanten der zweiten Lesergeneration, den zwischen 1950 und 1960 Geborenen, sind ebenfalls die meisten in buchfreundlichen familiären Atmosphären aufgewachsen. Zwar wurde bei weitem nicht in allen Familien gelesen, aber eine positive Einstellung zu den Lesemedien wurde auch diesen Kindern und Jugendlichen doch mehr oder weniger vermittelt. In der Regel wird zumindest ein Elternteil als dem Lesen und den Medien gegenüber aufgeschlossen beschrieben, öfters wird auch von den "Eltern" gesprochen, wenn es um Lesen und Buchbesitz in der Familie geht. Da aber die finanziellen Mittel in zahlreichen Familien meiner Befragten in den 50er und 60er Jahren knapp waren, mußten oft beide Elternteile einer Berufstätigkeit nachgehen. Die Mehrfachbelastung ließ ihnen so selten freie Zeit zum Lesen. Die familiäre Lese-Athmosphäre stellte sich in der Sicht der Kinder dann häufig wie in den anschließenden Zitaten dar.

Beleg Herr P. (1952), Polizeibeamter: "Mein Vater war 16 Stunden am Tag berufsbedingt abwesend und war froh, wenn er dann ein paar Stunden zum Schlafen hatte. Und ob meine Mutter vorgelesen hat, daß kann ich auch nicht sagen, weil sie auch berufstätig war und sich nach der Arbeit um Haus, Garten und Kinder kümmern mußte..."

Beleg Frau P.(1954), Sachbearbeiterin: "Ich weiß, daß meine Eltern sehr viel gelesen haben. Und mein Vater hat sich dann meistens die neuen Bücher, die er sich bestellt hat, auch geschnappt und gelesen. Meine Mutter hat auch gelesen, nur die hatte halt weniger Zeit. Die hatte ja ihre Arbeit, den Haushalt, die Kinder und weniger Zeit."

Beleg Herr F.(1947), Tontechniker: "Das ist problematisch. Meine Eltern hatten Schichtdienst, und da ist eigentlich kein Familienleben in dem Sinne abgelaufen. meine Mutter war Nachtschwester und hatte viermal die Woche von abends 7 bis morgens 7 Uhr Dienst, und der Vater hatte Schichtdienst: Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht und dann eine Woche frei.

Die nach 1949 Geborenen hatten in ihren Erinnerungen an die vorschulische Kindheit und die Zeit danach nicht immer direkte Auswirkungen der Nachkriegszeit auf die häuslichen Verhältnisse wahrgenommen - einige von ihnen waren in den ersten Aufbaujahren einfach noch zu jung, um hier Zusammenhänge zu sehen. Finanzielle Engpässe in den Familien wurden von ihnen daher selten mit der Währungsreform in Zusammenhang gebracht, sie dienten außerdem nur in einigen Fällen als Erklärungs-ansatz für einen kleinen Buchbestand im elterlichen Haushalt.

Daß die wirtschaftliche Lage sich in den meisten Familien bis Ende der 60er Jahre allmählich stabilisierte, ist auch darin zu erkennen, daß sich bei den Befragten der dritten Generation nur noch vereinzelt Aussagen finden, die eine Einschränkung des elterlichen Lesens mit der beruflichen Anspannung der Eltern in Verbindung bringen, wie es im folgenden Frau G. schildert:

Beleg Frau G.(1962), ungelernte kaufmänn. Angestellte: "Meine Eltern haben beide als sie Kinder waren sehr gerne gelesen. Von meiner Mutter weiß ich es genau und von meinem Vater glaube ich es auch. Und zu der Zeit, als wir klein gewesen sind, da haben sie gerade ihre Existenz aufgebaut und hatten wenig Zeit. Mein Vater hat gesagt, er müßte soviel lesen, was er für seinen Beruf alles brauchte, so technische Sachen. Er hatte dann einfach keinen Bock mehr noch irgendetwas zu lesen. Jedenfalls keine Bücher und eben auch nicht für sich selbst."

Die wirtschaftlichen Verhältnisse in den Familien der dritten Generation waren insoweit konsolidiert und gesichert, so daß häufig nur noch ein Elternteil, in der Regel der Vater, berufstätig war. Gingen beide Eltern einer Berufstätigkeit nach, so wurden die Kinder von bezahlten Hilfskräften oder einem Großelternteil betreut. Für alle drei Generationen wirkten sich die finanziellen Umstände offensichtlich weniger gravierend auf die Lesesozialisation aus, als vielmehr die persönliche Einstellung der Eltern zum Lesen. Auch ihre Bereitschaft die Lesesozialisation ihrer Kinder grundsätzlich zu unterstützen und zu fördern prägte in vielen Fällen die Lesesozialisation positiv. Besonders enthusiastisch wurde von den Eltern und Großeltern berichtet, die sich immer wieder zum Vorlesen und Erzählen bereit erklärten - ein Themenkomplex der im nächsten Abschnitt vorgestellt wird.

Vorlesen

An das Vorlesen durch Eltern, Tanten und Großmütter erinnerten sich die meisten Befragten als besonders harmonische und gemütliche Situationen in der Kindheit und als ein Symbol der Geborgenheit.

Beleg Herr M.(1929), Grafiker: "Und dann kam ich bei meinen Großeltern an Bücher, das war, als ich dann später auch schon lesen konnte. Das waren die Realien-Bücher, da waren tolle Gedichte drin, die mir dann meine Tanten vorgelesen haben. Ich hatte eine ganz komische Tante, die hat mir dann den Erlkönig vorgelesen, allerdings auch auf mein Verlangen hin immer wieder. Da hat es mich dann aber andererseits so geschaudert.(...) Da konnte ich jedenfalls noch nicht lesen (...) Ja, meine Tanten haben mir viel vorgelesen. Ich war ja bekannt als 'Öfchen' und im Winter wurde ich von meinen Eltern, wenn sie weg wollten, 'verliehen' an meine Tanten, damit ich ihnen im Winter die Betten vorwärmen sollte. Und die gingen dann auch gerne früher ins Bett, weil dann ja auch schon einer drinlag, der ihnen die Betten schön vorgewärmt hatte. Und wenn ich bei meiner Tante Lisbeth schlief, dann verlangte ich immer, daß sie mir vorlas aus E.T.A. Hoffmann: 'Die Elixiere des Teufels', und solche furchtbaren Schaudergeschichten. Die konnte ich mir da unter der warmen Bettdecke ja sehr gut anhören."

Wie die folgenden Belege illustrieren, übernahmen in manchen Familien auch Dienstmädchen, Haushälterinnen oder nahe Verwandte wie Großmütter oder Geschwister den Part des Vorlesens.

Beleg Herr K.(1934), Bäcker/Zollbeamter: "Meine erste Berührung mit Büchern war wohl... Wir hatten zu der Zeit ein Dienstmädchen, das mir abends zum Schlafengehen vorgelesen hat. Das waren hauptsächlich Märchen."

Beleg Frau F.(1933), Lehrerin: "Ich bin das zweite von sechs Kindern. Uns wurde vorgelesen noch bevor wir sprechen konnten, denn wir hörten die Gute-Nacht-Geschichten für unsere älteren Geschwister mit ... Vorgelesen wurde mir, als ich klein war, von unserem Kindermädchen, meiner Großmutter, Patentante und Mutter, später von meiner älteren Schwester."

Beleg Herr G.(1946), Geophysiker: "Ich kann mich ziemlich gut erinnern. Wir hatten eine Haushälterin, und die hatte viel Zeit und mußte uns tagelang erzählen. Aber sonst hat auch meine Mutter uns viel vorgelesen und auch meine Tante. Wir haben lange Nils Holgerson gelesen, ich kann mich noch an den Buchumschlag erinnern, und jede Menge Kinderbücher hat sie uns vorgelesen."

In einigen Familien der ersten Generation wurde begleitend zu abendlichen Stopf- und Handarbeiten vorgelesen. Den damals durchaus üblichen beengten Wohnverhältnissen wird so in der Erinnerung ein eher verklärender Aspekt abgewonnen:

Beleg Frau P.(1936), Verkäuferin/Erzieherin: ICh erinnere mich sehr genau, als wir so enge Wohnverhältnisse hatten und ich an der Verschrägung schlafen mußte. Da wurde dann die Lampe so etwas verdunkelt, damit ich schlafen konnte. Meine älteste Schwester saß und stopfte - Strümpfestopfen war damals Dauerrenner - und meine Mutter las den Fortsetzungsroman aus einer abonnierten Tageszeitung vor, und ich fand das so schön, so harmonisch. Es war ja Krieg in Hamburg."

Zahlreiche Erinnerungen an besonders intensives und häufiges Vorlesen bezogen sich auch auf gemeinsame Familienurlaube:

Beleg Herr J.(1961), EDV-Fachberater: "Vorgelesen wurde zu Hause nur wenig und wenn, von meinem Vater. Vor allem im Urlaub, der immer ziemlich lang war, so sechs Wochen im Sommer. Also an das Vorlesen erinnere ich mich noch bis ich etwa 10 Jahre alt war. Das hat aber auch mein Vater gemacht, der konnte sehr gut vorlesen. Meine Mutter wenn, nur ganz kurz und eigentlich hatte sie dafür nie Zeit. Ich erinnere mich da auch an Titel wie Robinson Crusoe, das war immer sehr schön. (...) Mein Vater hat zwar viel vorgelesen in den Ferien, aber ob er selber gelesen hat, da würde ich mal eher sagen: nein".

An dieser Aussage ist bemerkenswert, daß der Erzähler davon ausgeht, daß sein Vater, der ihm vorlas, selbst keine Zeit zum Lesen fand. Da der Vater die Familie als freier Handelsvertreter ernährte und in der Woche oft auswärts übernachtete, kann der Sohn dies sicherlich nicht genau beurteilen. Offensichtlich bemühte sich der Vater in der wenigen Zeit, die er mit der Familie verbrachte, dem Sohn die Welt der Bücher zu erschließen, zumal auch seine Frau keinerlei derartige Ambitionen hatte. Sie begründete ihr Nichtlesen mit einer hohen Arbeitsbelastung. Auch Frau G., die ihre alleinerziehende Mutter eigentlich nur in den Ferien für sich hatte, verbindet positive Erinnerungen speziell mit Situationen des Vorlesens.

Beleg Frau G.(1948), Grundschullehrerin: "Und wo wir jetzt beim Vorlesen wieder sind, da fällt mir noch was ein: Ich kann mich wirklich noch gut daran erinnern, daß ich mit meiner Mutter mal in den Ferien war, und es waren wirklich verregnete Nordseeferien, und das waren insofern ganz tolle Ferien, weil wir dann immer ganz doll eingemummelt in einem Strandkorb saßen, und es hat geregnet und gestürmt und war auch ziemlich kalt. Und da haben wir immer ein Buch gelesen und zwar von Selma Lagerlöf: Nils Holgerson. Und das war ein dickes Buch, das haben wir ganz durchgelesen, und das halte ich auch immer noch richtig hoch in Ehren. Ich habe es noch." (Sie zeigt das Buch).

Offensichtlich vermittelte das Vorlesen den Kindern Geborgenheit und das Gefühl, die jeweilige Person ganz für sich allein zu haben. Es handelt sich dabei um als sehr intensiv empfundene Erlebnisse. Eine Rückbesinnung an das Lesen in der Kindheit fiel vor allem denjenigen schwer, die keine positiven Erinnerungen an ihre ersten Kindheitsjahre besitzen, die sich mit einem Elternteil besonders schlecht verstanden oder unter widrigen Umständen aufwuchsen. Nicht-Vorlesen wird in einigen Fällen gleichgesetzt mit mangelnder Fürsorge, wenig Zeit für die Kinder. Während der Gespräche ließ sich feststellen, daß Menschen, die meinen, solche "persönlichen" Vorlesesitutationen nicht erfahren zu haben, Gefühle der Benachteiligung entwickeln, die das Beurteilen der eigenen Lesesozialisation stark prägen. Vorlesen wird in der Regel gleichgesetzt mit vertrauten Situationen, Gemütlichkeit, auf-dem-Schoß-sitzen oder in-die-Bettdecke-kuscheln, liebevoller Fürsorge im Krankheitsfalle oder entspannter Urlaubsstimmung. Derartige Situationen sind eng mit einem Bild von Ruhe, Frieden und Muße verbunden, das sich einem bei der Vorstellung von Mutter oder Vater, am Bett eines Kindes sitzend, aufdrängt. Fast alle der Befragten hätten gerne auf ein solches Bild zurückgegriffen, ohne zu reflektieren, daß es sich hierbei um stereotype Vorstellungen handelt, die auch von ihnen übernommen wurden. Die andersgeartete Realität wurde dann meistens auch mit entsprechenden stereotypen Erklärungen gerechtfertigt: "Die Eltern mußten doch beide arbeiten, wir hatten ja nichts", "Meine Mutter hatte neben den Kindern und dem Haushalt keine Zeit zum Vorlesen". Häufig lebten auch die Großeltern, die eine solche Aufgabe hätten übernehmen können, nicht am selben Ort. In den Gesprächen wurde deutlich, wie sehr frühkindliche Beschäftigungen mit Lesemedien, wenn sie in der Erinnerung mit harmonischen, gemütlichen Situationen konnotiert wurden, eine positive Einstellung zum Umgang mit Büchern prägten.

Leseferne häusliche Verhältnisse

Ein knappes Drittel aller Befragten wuchs in Haushalten mit weitgehend leseferner Atmosphäre auf. Damit ist nicht nur gemeint, daß die Eltern nicht lasen und sich wenig Bücher im Haushalt befanden, sondern auch, daß sie ihre Kinder offenbar weder schulisch noch literarisch anregen und unterstützen konnten.

Die meisten Aussagen dieses Inhalts erhielt ich von den Informanten der ersten und den älteren der zweiten Generation. Zahlreichen Familien standen zum einen bis etwa zur Mitte der 60er Jahre nur begrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung, die den Kauf von Büchern einfach unmöglich machten. Außerdem galten Bücher in diesen Familien auch nicht unbedingt als etwas derart Erstrebenswertes, um dafür Anteile des knappen Einkommens auszugeben. Diese Buchabstinenz resultierte teilweise daher, daß die Eltern meiner Informanten selbst aus Familien stammten, die im Hinblick auf Lesen und Buchbesitz als anregungsarm zu bezeichnen sind. Diese konnten in Korrelation mit kurzen Schulzeiten, wenig qualifizierten Berufsausbildungen und langen Arbeitszeiten selten Geld für Bücher erübrigen. Bücher und Lesestoffe wurden aber auch eher selten vermißt, da die Eltern selbst nie eine positive Beziehung zu Büchern aufbauen konnten.

Beleg Herr F.(1947), Tontechniker/Hausmann: "An Vorlesen in meiner Kindheit kann ich mich nicht mehr erinnern. Für mich war Lesen nicht wichtig, weil es auch in unserem Elternhaus nicht üblich war, Bücher zu lesen und/oder welche zu haben und somit beschränkte sich das Lesen auf schulische Dinge.( ...) Meine Eltern haben regelmäßig eine Tageszeitung gelesen, aber das war die Morgenpost oder die Bild-Zeitung. Und außer einer Fernsehzeitung hatten wir eigentlich nichts. Meine Mutter hat sich ab und zu an der Haustür überreden lassen, Lesezirkel-Mappen abzunehmen. Und der Vater hat die dann wieder abbestellt nach einer Weile. Der Vater hatte auch mal 'Reader's Digest' bestellt, wenn es irgendwelche Prämien gab und dann nach einiger Zeit wieder abbestellt. Gelesen wurden diese Hefte aber nicht, die hat er irgendwo im Schrank gesammelt. Also ich verstehe auch unter Lesen, daß sie wenigstens zu 80% durchgelesen wurden, aber diese wurden nur durchgeblättert. (...) Bücher waren nicht wichtig. (...) Also solch ein Bücherangebot wie wir es jetzt hier haben, das gab es bei uns nicht. Ein Bücherregal gab es nicht - daraus kann man doch schon alles schließen. Es gab einfach nichts, um Bücher aufzubewahren. Und die Reader's Digest? Die kamen in den Schrank. Ich denke, diese Bücherregale und so, die sind dazu da, die Bücher aufzubewahren. Man würde doch Bücher niemals verstecken."

In dieser Aussage lassen sich aus heutiger Sicht einige prägende Phänomene der Lesozialisation in buchfernen Familienmilieus verorten: Zum einen die weitgehend buch- und leseabstinente und wenig anregende häusliche Atmosphäre des Elternhauses, in der Bücher offensichtlich gar nicht und Zeitschriften oberflächlich zur Kenntnis genommen wurden. Zum anderen der kontrastive Rückblick von Herrn F., der Vergleich mit seiner heutigen Situation, in der er ein Leben führt, zu dem Bücher als kulturelle Symbole ganz selbstverständlich dazugehören. Für ihn ist Lesen gleichzusetzen mit dem Lesen von Büchern oder längeren Texten. Das Lesen einer Boulevardzeitung oder Fernsehzeitung rechnet er nicht dazu. Ergänzend sei hier angeführt, daß das Ehepaar F. "Die Welt" und "Die Zeit" abonniert hat, er selbst aber aufgrund von Konzentrationsproblemen ausschließlich Märchen liest.[32] ) Für ihn sind Bücher Bestandteile der persönlichen Kultur, die man sichtbar aufbewahrt, also "präsentiert". Nicht zuletzt bleiben sie dem Besitzer auf diese Weise gegenwärtig und demonstrieren zugleich das eigene Bildungsinteresse und den eigenen Bildungsstand.

Auch Herr K. erlebte sein Elternhaus als von Buchferne und Leseabstinenz geprägt. Er charakterisiert es wie folgt:

Beleg Herr K.(1950), Büromaschinenmechaniker: "Nein, es gab keine Bücher bei meinen Eltern. Vielleicht eines. Das ist heute noch so bei meiner Mutter, da steht nicht ein Buch. Und wenn du was sagen würdest, dann käme gleich: 'Die stauben doch bloß ein'. Meine Eltern hatten immer das Abendblatt aber sonst nichts. (...) Vom Elternhaus kam da ja gar nichts. Da war nichts drin. Das mußte man sich alles selber erarbeiten. ... Und für Bücher fehlte ihnen das Interesse. Man hätte sich ja auch ein Buch wünschen können, aber der Gedanke kam da gar nicht auf. Wenn man als Kind da gar keine Anregung bekommt, wenn da also mal das Radio oder der Fernseher angestellt wird, da fehlt einem doch was, weil man sich das ja nicht selbst erarbeiten kann. Man vermißt es nicht, solange man es nicht kennenlernt."

Das geschilderte, stark leseabstinente Klima in der Familie wird durch den Vergleich mit der eigenen Wertschätzung von Büchern noch betont. Zugleich verweist Herr K. darauf, daß sich bei seiner mittlerweile verwitweten Mutter bis heute kein Interesse an Büchern entwickelt habe. Allein gelassen fühlte Herr K. sich auch bei der Bewältigung der schulischen Anforderungen, für die er bei den Eltern ebenfalls keine Hilfe fand. Daß das Desinteresse der Eltern in derartigen Konstellationen oftmals von den Betroffenen selbst als hemmend für die persönliche intellektuelle Entwicklung gewertet wird, ergänzt die anschließende Aussage von Frau L., deren Eltern bereits mit der notwendigen Unterstützung in der ersten Klasse überfordert waren.

Beleg Frau L.(1950), ausgeb. Gymnasiallehrerin/Yogalehrerin: "Also die Kindheit. Bei uns zu Hause wurde nicht gelesen. Ich erinnere mich nicht daran, daß wir Bücher hatten oder gelesen wurde, oder daß ein Bücherbord irgendwo zur Einrichtung gehörte. (...) Ich fing an mit dem Lesen in der Schule konfrontiert zu werden, als ich dann lesen lernen mußte. Und das fiel mir gar nicht so leicht. Ich weiß noch, daß ich Mühe hatte mit dem Lesen. Ich weiß, daß ich manchmal auch verzweifelt war, weil mir keiner helfen konnte - man mußte das nun mal alleine lernen. Und mit mir konnte sich keiner hinsetzen und üben und vorlesen. Und irgendwann hatte sich meine Mutter dann auch bereit erklärt, mir während des Abwasches zuzuhören und mich zu korrigieren, wenn ich es dann nun überhaupt nicht hinkriegte. So habe ich dann also Lesen gelernt, und es war, wie gesagt, mühsam."

Einige der Befragten fühlten sich, ähnlich wie Frau L. bereits als junge Kinder "im Stich gelassen" und stigmatisiert, weil ihnen die Eltern eine fördernde Unterstützung verweigerten. Dazu gehören die Möglichkeiten der Entwicklung und Ausbildung wie auch - nicht nur unter den Befragten der ersten Generation - die oben erwähnten intellektuellen Begrenzungen der Eltern.

Beleg Frau H. (1962), Buchhalterin: "Ich habe bis zu meinem fünfeinhalbten Lebensjahr bei meiner Großmutter gelebt. Die hat mir Bilderbücher vorgelesen. Da hatte ich auch Bücher. Aber dadurch, daß ich dann später zu meiner Mutter kam und nur wenig Sachen mitnehmen durfte, hatte ich dann keine eigenen Bücher mehr. (...) Wir hatten keine Tageszeitung, alles was da mal herumlag, das war eine Fernsehzeitung. (...) Meine Mutter hat nichts gelesen und hatte auch nicht viele Bücher, sie hatte nichts abonniert".

Die Einstellungen der Eltern zur Dauer des Schulbesuchs und der Ausbildungen ihrer Kinder waren für die betroffenen Kinder vor allem deshalb von Bedeutung, weil die formale Bildung letztendlich auch die Wahlmöglichkeiten der Ausbildungsgänge bestimmt. Nicht immer allerdings scheiterte der Besuch einer höheren Schule an der intellektuellen Begrenzheit der Eltern. Bei den Angehörigen der ersten Generation mußten einige bildungsorientierte Berufspläne zunächst aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel, mit denen viele Familien - gerade auch nach einer Flucht - in den ersten Nachkriegsjahren wirtschafteten, zurückgestellt werden.

Der Druck, einen fundierten schulischen Qualifikationsnachweis erbringen zu müssen, betrifft vor allem die Befragten der dritten und in der Mehrzahl die der zweiten Generation. Bei ihnen bestimmte in der Regel nicht mehr die finanzielle Situation der Eltern die Berufswahl, sondern eher eine geschlechtsspezifische Auffassung darüber, welche Ausbildungsaufwand lohnend sei. Nicht freiwillig gewählte oder "verpaßte" Berufschancen bildeten immer wieder einen Anlaß zur Kritik an den eigenen Eltern. Deren Verständnis davon, welche geschlechtsspezifischen Berufsausbildungen Frauen bzw. Männern zustehen, führten in einigen Gesprächen zu nachträglichen Schuldzuweisungen.[33] ) Auch die intellektuelle Begrenztheit der Eltern wird für die eigene mittelmäßige Ausbildung verantwortlich gemacht.[34] ) Neben fehlender Unterstützung von Seiten der Eltern wurden damalige normierte Auffassungen als regulierende Autoritäten geschildert.[35] ) "Das war damals eben nicht anders, ein Mädchen lernte so etwas nicht".[36] ) Diese Aussage trifft vor allem auf die Angehörigen der ersten Generation zu und fand sich nur noch selten in der zweiten Generation. Sie muß zudem vor dem Kontext eines Zeitgeistes interpretiert werden, unter dessen Einfluß bis in die späten 60er Jahre hinein vorwiegend Kinder wohlhabender Familien auf ein Gymnasium überwechselten.

Die Rekonstruktion der eigenen Lesesozialisation durch die Erinnerung berührte viele Bereiche der Biographie. Das Erzählte wurde in den meisten Fällen im Laufe des Gesprächs immer privater, und während der Gespräche wurden sehr persönliche Lebenserfahrungen angesprochen: Familiäre Probleme wie Ehescheidungen, Stiefeltern, körperliche Sanktionen oder, wie bereits zitiert, auch ein kulturelles Desinterresse auf der Seite der Eltern avancierte dann für eine Zeitlang zum Mittelpunkt der Gespräche. Es ließen sich schwierige Schicksale, aber auch Begünsti-gungen erkennen. Viele der Informanten stellten im Rückblick auf ihre Biographie fest, wieviel sie sich in bildungsspezifischer Sicht doch selbst aneignen mußten, bzw. wie stark sie auf "Gönner" und Förderer außerhalb der engen, eigenen familiären Atmosphäre angewiesen waren. Dort, wo die Eltern eine höhere Berufsausbildung unterstützten oder forcierten, handelte es sich in der Regel auch um "buchnahe" Haushalte, ohne daß damit etwas Verbindliches über den Bildungsstatus der Eltern ausgesagt werden kann.

Diejenigen der ersten und zweiten Generation, die gerne eine höhere berufliche Position angestrebt hätten, bemühten sich wiederum stark, ihren eigenen Kindern mehr zu ermöglichen. Dazu gehörte neben einem frei zugänglichen Buchbestand auch die Vermittlung einer positiven Einstellung gegenüber Büchern als Wissensspeicher sowie Leseförderung durch Buchgeschenke oder die Einführung ihrer Kinder in die Nutzung öffentlicher Bibliotheken.

In einigen Fällen konnte recht klar herausgestellt werden, wann und wodurch der Impuls, mit Freude und Interesse zu lesen, ausgelöst wurde, soweit er nicht auf die Anregung aus dem Elternhaus zurückzuführen war. Wie im anschließenden Zitat, gelang es im Einzelfall auch Befragten aus lesefernen Familien, Anregungen nicht nur anzunehmen, sondern praktisch umzusetzen. Herr B. konnte sich so trotz eines bildungsfernen Elternhauses geistig und beruflich weiterentwickeln. Das Engagement eines Gönners wirkte in diesem Fall ausgleichend auf den Mangel des Elternhauses und vermittelte dem Betroffenen Selbstvertrauen.

Beleg Herr B.(1950), Bankkaufmann/Gewerbelehrer: "Mein Vater ist gelernter Schiffsbauer, hat aber im Krieg ein Bein verloren und konnte dann in dem Bereich nicht mehr arbeiten, er war dann als Telefonist tätig. Meine Mutter hat eine Schneiderlehre gemacht und hat, während wir klein waren, auch oft noch nachts genäht, weil das Gehalt meines Vaters kaum reichte. Sie war dann natürlich auch am Tag kaputt und hatte nicht viel Sinn fürs Vorlesen. Sie hatte eigentlich nie die Zeit fürs Vorlesen. Sie mußte dann ja auch noch einkaufen und sauber machen. Meinen Vater habe ich oft abends gar nicht mehr gesehen. Der kam selten vor 7 Uhr nach Hause und dann hat es manchmal auch noch für das Abendbrot gereicht, aber in der Regel mußten wir ins Bett. Es war schon von mir auch der Wunsch ihm gegenüber vorhanden, daß ich weiterkommen wollte. Meine Mutter hatte schon den Realschulabschluß, er nur Hauptschule und ich wollte mehr erreichen. Ich hatte einen Onkel, der hatte einen Malereibetrieb und betonte immer, wie wichtig nun doch Bildung sei. Und der war für mich auch ein Vorbild, weil er auf mich sehr souverän wirkte und ein gemachter Mann war. Der hatte keine Kinder und sah mich allerdings immer so als seinen Nachfolger, aber mit dem Malereibetrieb hatte ich nie viel am Hut. Da meinte der dann auch, eine Banklehre wäre für mich nicht schlecht. Und mit seinem Einfluß letztendlich - er ist der Onkel meiner Mutter - kam der Entschluß auf mit der Banklehre als gute Basis für alles weitere. Und durch die Fürsprache der Zwillingsschwester meiner Mutter, die einen Chefmathematiker einer Versicherung kannte. Und mit dessen Empfehlung hatte ich dann keine Probleme mehr, bei der Dresdner Bank unterzukommen. Es ist wohl heute etwas schwierig, da ran zu kommen, damals reichte dann noch ein persönliches Gespräch. Ich habe die Lehre von 1967 bis 70 gemacht. Weil ich sehr ehrgeizig war, habe ich die Lehre auch mit "sehr gut" abgeschlossen." (...) Ich erinnere mich auch noch an einen Berufsschullehrer, der mich auf die Idee brachte, auch noch weiter zu machen. Wohl aufgrund meiner schulischen Leistungen. Ich war mit zwei anderen Auszubildenden - damals ja noch Lehrlingen - waren wir so halt die drei Besten in der Klasse mit ziemlich großem Abstand zu den anderen."

Herr B. gehört vom Jahrgang her zur zweiten Generation, aber die Folgen des Zweiten Weltkrieges - in Form der Kriegsversehrtheit des Vaters - prägten auch noch seine Lebenssituation als Jugendlicher. Da der Vater ihm als Identifikationsfigur weder in autoritärer noch in intellektueller Hinsicht genügte, suchte sich Herr B. Vorbilder und Gönner außerhalb der Familie. Unterstützt wurde er von seiner Mutter, die eine bessere Schulbildung als der Vater hatte. In Kombination mit einem gewissen Ehrgeiz, schaffte er es aus seiner Sicht sich "emporzuarbeiten". Elementar wichtig für das eigene Fortkommen war für ihn die Lektüre "anspruchsvoller" Lesestoffe in Form von Büchern und Zeitungen, die er auch unter der Prämisse las, daß er "weiter kommen" wollte. Er las bereits früh "Die Zeit" und hat nach wie vor die "Süddeutsche Zeitung" abonniert.[37] )

Unter den Interviewten verfügten die Angehörigen der dritten Generation über das größte Entscheidungsspektrum und die besten finanziellen Möglichkeiten, um ihre Schul-, Berufs- und Lesewünsche und damit auch sich selbst zu verwirklichen. Die Jüngsten dieser Befragungsgruppe hatten zum Zeitpunkt des Interviews ihre Ausbildung gerade abgeschlossen. Bis auf Frau G. und Frau H. konnten sie alle eine selbst gewählte Berufsrichtung einschlagen. Die eigene Wahl der Ausbildung war für die dritte Generation offenbar so selbstverständlich, daß sie nur am Rande Gegenstand der Interviews war. Erwähnung fand sie eigentlich nur dann, wenn es um die zu bewältigende Fachlektüre ging. Auch das breite, ihnen zur Verfügung stehende Medienspektrum wurde eher selten thematisiert. Die Lesesozialisation der dritten Generation wurde so von zahlreichen Einflüssen und einem breiten Angebot geprägt, aber die mögliche Verankerung des Lesens in ihren Lebensläufen unterscheidet sich nicht essentiell von der der ersten und zweiten Generation. Geringe Anregungen des Elternhauses wirkten sich bei ihnen in ähnlicher Weise aus, so daß sie ebenfalls zum Teil auf Anregungen von Außenstehenden angewiesen waren.

Disharmonische Familienverhältnisse - Lesen als Flucht

Mehrfach thematisierten vor allem die Frauen unter den Befragten in den Interviews, daß sie sich, wenn sie als Kinder unter familiären Problemen und Spannungen litten, mit Hilfe von Büchern in imaginäre Welten flüchteten. Die Betroffenen lasen dann primär, um dem für sie repressiven Alltag zu entkommen. Das Lesen wurde in der Regel in ihren Familien als "gute" Freizeitbeschäftigung akzeptiert und erfüllte so für diese Informantinnen eine Art "Schutzfunktion". Die folgenden Belege sind Aussagen von Frauen, die besonders intensiv bemüht waren, sich über das Lesen von Büchern von der familiären Realität ablenken zu lassen.[38] )

Beleg Frau H.(1962), Buchhalterin: "Und dann hatte ich nochmal so eine ganz einschneidende Lesephase, das muß begonnen haben mit elf oder zwölf Jahren und aufwärts. Da hat das Lesen einen anderen Stellenwert für mich eingenommen. Denn da hatte ich eine sehr schlechte Phase in der Kindheit. Ich bekam den zweiten Stiefvater, und wir hatten absolut katastrophale Familienverhältnisse, und da wurde das Lesen für mich zu einer Flucht. So würde ich es aus heutiger Sicht interpretieren. Ich habe in jeder Minute, die ich erübrigen konnte, auf meinem Bett gesessen, meistens noch mit einem Apfel in der Hand - das war der Inbegriff der Gemütlichkeit - und in eine Decke eingekuschelt und habe gelesen. Und als ich jetzt im Hinblick auf dieses Interview darüber nachgedacht habe, fiel es mir ein, das waren alles Geschichten über Mädchen oder junge Frauen, die in irgendeiner Weise die Welt verbessern wollten. Und die einen Beruf gelernt haben, der in diese Richtung ging."

Frau E. wählte den Rückzug in die Lektüre vor allem deswegen, weil sie unter der rigiden häuslichen Atmosphäre litt.

Beleg Frau E.(1954), Sozialpädagogin: "Dazu muß man auch sagen, daß unser Familienleben und eben meine Kindheit nicht so dolle war. Ich war also ganz froh, wenn ich lesen konnte und was für mich machte und von meinen Eltern nichts mitkriegte. (...) Ich hatte ein sehr gespanntes Verhältnis zu meiner Mutter und für mich war Lesen auch schon als Kind ganz wichtig."

Wie in diesem Zitat deutlich wird, war Frau E. auf dieses intensive Lesen nur in der Zeit, die sie als Kind und Jugendliche zu Hause lebte, angewiesen. Nachdem sie zu Beginn ihrer Ausbildung dort auszog, löste sich die Spannung und sie las mit ganz anderen Intentionen:

Beleg, Frau E.(1954) s.o.: "Es ist jetzt ein ganz anderes Lesen als in meiner Kindheit. Die war sehr problematisch und ich habe aus Flucht gelesen und mir so eine zweite Weltebene geschaffen, denn das Lesen wurde als bildungsbeflissene Tätigkeit akzeptiert."

Auch einsame Kinder, die in einem lesefernen familiären Milieu wenig intellektuelle Kontaktmöglichkeiten hatten, flüchteten sich in die Lektüre. Interessant im folgenden Beleg ist, daß Frau L. ihren Rückzug in die Welt der Bücher im nachhinein als "gefährlich", interpretiert, weil es für sie das "richtige" Leben ersetzte. Ihrer eigenen Tochter legt sie das Lesen von Büchern nur in Maßen nahe.

Beleg Frau L.(1950), ausgeb. Gymnasiallehrerin/Yogalehrerin: "(...) aber ich sehe darin (im Lesen) auch noch eine andere Gefahr. Das habe ich auch eine Zeitlang gelebt, da war ich noch nicht im Studium sondern Oberstufe zu Hause. Daß ich mich in meine Lesewelt so flüchtete. Viele Dinge konnte ich nicht leben, z.B. ich konnte nicht so viel ausgehen, weil wir auf dem Dorf lebten, ich konnte mir nicht viel kaufen, weil wir viel ärmer waren als viele andere. Ich war so ziemlich darauf angewiesen, mich mit mir selber zu beschäftigen und ich hatte wenig Möglichkeit zum Austausch, zum Amüsieren und zum Ausleben, wie die Stadt es einem so bietet. Das war damals auf dem Dorf nicht möglich. Da bot mir das Lesen ..., oder meine Bücher bildeten so eine zweite Welt, in die ich mich dann flüchten konnte, und in der ich mich dann wohlfühlen konnte und vergessen konnte, daß ich eine Zeitlang sehr in mich zurückgezogen lebte, fast autistisch. Da hatte ich zum Teil dann nur noch so meine Bücher. Das praktiziere ich dann heute überhaupt nicht mehr so. Nicht, daß ich mich nicht auch mal in diese andere Welt, die Bücher einem so vermitteln, entführen lasse. Dabei ist aber mehr der Unterhaltungseffekt oder das Spannungsmoment ausschlaggebend."

Aussagen, daß das Lesen unter rigiden Lebensverhältnissen als Ablenkungs- und Evasionsmöglichkeit eingesetzt wurde, erhielt ich nur von Frauen der ersten und zweiten Generation. Sie bemühten sich, über das Lesen eine Welt zu schaffen, aus der die nächsten Angehörigen - vor allem die Eltern - ausgeschlossen waren, und in der sie träumen konnten. Diese Funktion des Lesens, um sich abzuschließen, wurde sowohl von einigen weiblichen als auch von männlichen Informanten der dritten Generation durch stundenlanges Musikhören und Fernsehen ersetzt. In allen mir genannten Fällen registrierten die Eltern offensichtlich nur die vordergründige Beschäftigung des Lesens und akzeptierten sie aufgrund der positiven Konnotation mit dieser Kulturtätigkeit. Sie unterließen es, die reale Motivation des Lesens zu hinterfragen. Ergänzend sei darauf verwiesen, daß die betroffenen Informantinnen aber auch kein Interesse an derartigen Gesprächen formulierten. Es ist davon auszugehen, daß die internen Spannungen in diesen Familien zwar auf beiden Seiten registiert, aber zugleich aufgrund mangelnder Kommunikationsmöglichkeiten nicht in Frage gestellt oder verbal gelöst werden konnten.

Lesen im dörflichem Umfeld

Bedingt durch die unruhigen letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre, mit Evakuierungen und Umzügen zu Verwandten auf das Land, lebten einige der Informanten der ersten Generation eine Zeitlang in einem Dorf. Sie berichten aus dieser Zeit von einer deutlichen Veränderung ihres Leseverhaltens, deshalb möchte ich im Folgenden noch auf die Auswirkungen dieser besonderen Lebenssituation auf das Lesen eingehen.[39] ) Speziell das Leseverhalten ihrer neuen Altersgenossen unterschied sich stark von ihrer bisherigen Lesepraxis, was aber weniger auf die fehlenden intellektuellen Anregungen auf dem Lande zurückzuführen ist, als vielmehr darauf, daß Kinder in der Stadt oft deshalb lasen, weil sie immer wieder über längere Zeiträume des Tages auf sich gestellt waren. Als "Hinzugezogene" orientierten sich die ehemaligen Stadtkinder ihren Aussagen nach am Spiel- und Freizeitverhalten der Dorfkinder am Ort. Sie lasen relativ wenig, weil sie nahezu ganzjährig im Freien spielten. Während Frau G.'s Mutter als Alleinerziehende eine Zeitlang von ihrer Tochter getrennt lebte, wuchs diese in der Familie einer Tante, die als Dorfschullehrerin tätig war, auf.

Beleg Frau G.(1948) Grundschullehrerin: Haben Sie mit Ihren Freundinnen damals Bücher ausgetauscht? "Ich denke eigentlich nicht. Ich habe ja damals auf dem Dorf gelebt und eigentlich war es nicht so üblich, daß wir uns so beschäftigt haben; wir haben viel draußen gespielt. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, daß ich in dieser Grundschulzeit so toll oder so intensiv gelesen habe, daß es mir in Erinnerung geblieben ist."

Erst später, als Frau G. dann der Schule wegen - die nächste Realschule befand sich in der nahegelegenen Kreisstadt - mit ihrem Onkel in eben diese Stadt zog, begann sie die dortige Öffentliche Bücherei zu nutzen und verstärkt zu lesen. Ein Kind dagegen, das wie Herr Z. in einer Großstadt wie Hamburg aufwuchs und viel Zeit allein verbringen mußte, wurde früh auf Bücher als Beschäftigungsmöglichkeit verwiesen, bzw. suchte mangels anderer Möglichkeiten, wie dem Spiel mit Gleichaltrigen, Ablenkung in den Buchwelten.

Beleg Herr Z.(1932), Kraftfahrzeugmechaniker/Gewerbelehrer: "Ich war ja als Kind viel allein und was macht man dann? Also Spiele spielen oder irgend so etwas, das macht man ja nicht. Wenn ich von der Schule kam, war ja keiner da. Eine Zeitlang habe ich den Kindergarten besucht, aber dann, als ich dann zum Gymnasium ging, war ich praktisch allein bis zum Abend. Von daher habe ich also gelesen, um einfach die Zeit rumzubringen. Wobei es mir aber nie lästig war zu lesen. Ich habe es immer gern gemacht. Zumindest hier in Hamburg. Wir sind 1944 schon von Hamburg evakuiert worden in die Nähe von Celle. Ich hatte dann wenig Kontakt zu Gleichaltrigen auf der Straße gehabt." Dann hat das Lesen auch den Kontakt zu den anderen Kindern ersetzt? "Ja. Ich kann mich daran erinnern, daß ich manchmal mit irgendwelchen Nachbarskindern Rollschuh gelaufen bin, aber daß Kinder zu mir gekommen wären, oder daß wir bei uns in der Wohnung gespielt hätten, oder ich woanders hingegangen bin, daran kann ich mich nicht erinnern."

Nachdem die Familie aufgrund der erwähnten Evakuierung in ein Dorf bei Celle zog, änderte sich seine Situation schlagartig und er führte ein Leben, das rückblickend eher einem Jungen seines Alters zu entsprechen scheint:

Beleg Herr Z.(1932) s.o.: Haben Sie dort Bücher von Freunden ausgeliehen? "Nein! Dort auf dem Dorf, da wurde nicht gelesen. Meine Freunde, mit denen ich da zusammen war, Fußball gespielt habe, mit denen ich rumgezogen bin, die haben nicht gelesen. Auf dem Dorf war ich ständig unterwegs. Meine Mutter war ja noch berufstätig, aber die Schwester meiner Mutter war im Haus und eine Großmutter und der kleine Bruder, der 1944 geboren wurde, und das war eher so, daß ich mich ständig abgesetzt habe. Ich war also selten zu Haus."

Als Folge dieses relativ "unkontrollierten" Lebens genossen die Kinder viele Freiheiten und unbeaufsichtigte Freiräume. Dabei konnte es durchaus vorkommen, daß sie sich eine Zeitlang in Kinder- und Jugendgruppen bewegten, unter denen es gerade "im ersten Nachkriegsjahrzehnt (...) sehr viele brutale Kinderspiele (gab)."[40] ) Ebenfalls auf das Land evakuiert, erinnert sich Frau Z. an die ersten Jahre nach dem Krieg als an eine Zeit persönlicher und sozialer Desorientierung.

Beleg Frau Z.(1940), Weberin/Hausfrau: "Also direkt nach dem Krieg, waren wir eine richtige Kinderbande. Wir haben Leute eingesperrt und die nicht wieder rausgelassen, weil die gebettelt haben, die Leute. Ich war erst vier einhalb und später fünf und die anderen waren acht und neun also viel älter; aber ich fand das toll. Wir haben auch Munition gesammelt und das knallen lassen. (...) Ja, das war erst besser, als ich aus Holland zurückkam. Da hatte ich dann das Gefühl, auch schon als Kind, daß eine gewisse Ordnung wieder hergestellt ist. Und das nicht mehr alles drunter und drüber ging."

Groß war auf dem Dorf auch das Interesse an Kino und Fernsehen. Fernsehgeräte hielten meistens zuerst im jeweiligen Gasthof Einzug, und ließ diesen so oft zum Treffpunkt für die ersten gemeinsamen Fernseherlebnisse werden. Im folgenden kommt noch einmal Herrn Z. zu Worte:

Beleg Herr Z.(1932), Kraftfahrzeugmechaniker/ Gewerbelehrer: "Auf dem Dorf war das auch so: in unserem Ort war zwar eine Kneipe, aber die hatte keinen Fernseher. Wir mußten also in den Nachbarort, nach Glagtehausen, und da gab es in der Kneipe einen großen Fernseher. Das war zur Fußballweltmeisterschaft 1954 in der Schweiz, da war der große Saal und da saßen wir und haben Fernsehen geguckt. Das war aber auch das Einzige, was wir geguckt haben, ansonsten hat uns Fernsehen nicht interessiert."

In den vorgestellten Belegen wird deutlich, daß Kindheiten auf dem Dorf sicherlich häufig weniger von intensivem Lesen geprägt waren als in der Stadt. Größere Freiräume zum Spielen ermöglichten den Kindern einen weiteren Aktionsradius als im urbanen Umfeld. Wie Herr Z. lasen Kinder berufstätiger Eltern häufig mangels anderer Beschäftigungsmöglichkeiten, auch wenn sie das Spielen mit Gleichaltrigen sicherlich vorgezogen hätten. Diese Umstände verweisen auch auf die Tatsache, daß es sich bei viellesenden Kindern nicht immer unbedingt um eine intensive "Leseratte" handelte.

Das Leben in dörflicher Umgebung war für meine Gewährspersonen von begrenzter Dauer. Bis auf eine Ausnahme verließen sie diese wieder spätestens zum Eintritt in die Berufsausbildung oder zum Beginn eines Studiums und leben seitdem in einer Großstadt oder zumindest im großstädtischen Einzugsgebiet.

Stubenhocker

Sehr intensives Leseverhalten eines Kindes konnte auch die Titulierung als "Stubenhocker" zur Folge haben. Die Nachhaltigkeit, mit der manche der Befragten im urbanen Umfeld bereits in ihrer Kindheit lasen, überschritt auch manchmal das von den Eltern als positiv empfundene Maß.

Beleg Herr K.(1956), Kaufmänn. Angestellter: Hat das Deine Eltern manchmal gestört, daß Du soviel gelesen hast? "Ja, manchmal haben sie auch gesagt, ich soll mal rausgehen und mit den anderen Kindern spielen. Also es gab da wohl auch mal Zeiten, wo ich in ihren Augen zuviel gelesen habe und andere Interessen zugunsten des Lesens zurückgestellt habe. Daran kann ich mich auch noch erinnern."

Nachdem eine Jugendfreundschaft auseinandergegangen war hielt sich Herr K. in seiner Freizeit wochenlang nur noch lesend in seinem Zimmer auf und suchte offensichtlich keinen neuerlichen Kontakt mit Mädchen. Seine Eltern zeigten sich besorgt, daß er sich womöglich nicht "normal" entwickeln könne, und waren erst beruhigt, als er wieder eine Freundin hatte. Trotz einer grundsätzlich buchfreundlichen Atmosphäre dieses Elternhauses, wurde sein intensives Lesen von seiner Mutter als verhaltensauffällig und auf Kontaktarmut hindeutend gewertet:

Beleg Frau K.(1935), Schmuckverkäuferin: "Wir waren richtig froh, als er wieder eine Freundin hatte, denn nur Lesen ist doch in diesem Alter nicht normal."

Frau Sch. wurde von ihrer Mutter ebenfalls angehalten, nicht ständig drinnen zu lesen, sondern auch draußen zu spielen.

Beleg Frau Sch.(1958), beurlaubte Kripobeamtin/Hausfrau: "Ich kann mich daran erinnern, daß das ziemlich schlimm war mit dem Lesen. Also, daß meine Mutter gesagt hat 'geh mal raus' weil ich immer nur gesessen und gelesen und gelesen habe. Ich habe auch abends unter der Bettdecke gelesen und konnte nicht aufhören, bis ich ein Buch durch hatte."

Der Kontrast von "draußen" und "drinnen" wurde mir in der Bewertung des Lesens durch die Eltern wiederholt genannt. Da es für Kinder als wichtig galt, sich auch draußen aufzuhalten, sich altersgemäß zu bewegen, wurden sie in der Auffasssung einiger Eltern durch das Lesen an notwendiger Bewegung gehindert. Besonders bei gutem Wetter kritisierte man das Lesen drinnen, es gab demnach für diese Beschäftigung auch für Kinder "richtige und falsche Zeiten". Belege hierfür fanden sich in den Aussagen der Informanten der zweiten und dritten Generation. Ob Lesestoff der ersten Generation nicht so zahlreich zur Verfügung stand, oder ob sie einfach größere Freiräume hatten, konnte im Rahmen meiner Untersuchung nicht schlüssig geklärt werden. Zu vermuten ist, daß durch ein begrenztes Angebot ein "Zuviel" an Lektüre eher selten entstand. Anzunehmen ist, daß die Eltern in den, doch teilweise chaotischen Jahren der Nachkriegszeit einfach keine Zeit hatten und wohl auch keine Notwendigkeit sahen auf das Lesen der Kinder zu achten.

So wie sich Kinder und Jugendliche durch ihr Leseverhalten als "Stubenhocker" vom Freizeit- und Medienverhalten ihrer Familie distanzierten, exponierten sich vereinzelt auch "bildungsbeflissene" Mitglieder einer Familie durch ihre Leseinteressen. Vor allem dort, wo das Lesen komplexer Texte nicht zu den gewohnheitsmäßigen Beschäftigungen der Mitglieder eines Familienverbandes gehörte, wurde es eher selten als anerkennenswerte intellektuelle Leistung akzeptiert.

Beleg Herr B.(1950) Bankkaufmann/Gewerbelehrer: "(...) ich war mit 17 1/2 mit der Realschule fertig und habe dann eine Banklehre angefangen. Dann habe ich die 'Zeit' abonniert. Damit war ich dann der Exot in der Familie. (...) Also mit meiner Schwester habe ich nicht viel gemeinsam. (...) Aber es war eigentlich immer so, daß ich als der Intelligenzler für sie sowieso ein rotes Tuch war. Da hat sie immer eher verächtlich reagiert und mich eher schief angesehen. Da waren wenig Gemeinsamkeiten. Aber auf geistiger Ebene war da eigentlich gar nichts."

Gespräche in der Familie über Bücher und Literatur

Das Lesen einzelner Familienmitglieder führte allerdings nicht nur zu Ab- oder Ausgrenzungen, es regte im Austausch über das Gelesene auch Gemeinsamkeiten in Form von Gesprächen über Bücher oder gegenseitige Buchempfehlungen an. So erhielten Frau P. und Frau L. beide von ihren halberwachsenen Kindern Anregungen für interessante Lektüren, über die sie sich dann später mit ihnen austauschten.

Beleg Frau P.(1936). Verkäuferin/Erzieherin: "Ich habe da vorher auch schon viel über Indianer gelesen, über die Kinder. (...) Überhaupt bin ich durch die heranwachsenden Kinder sehr gut an Lektüre herangeführt worden. Meine jüngste Tochter hat immer die Zeit genutzt, wo man als Mutti gerne mal gehabt hätte, daß sie mal eben abtrocknet. Da hat sie sich dann mit einem Buch hingesetzt und gesagt: 'Mutti, soll ich dir mal was vorlesen?' Und da habe ich dann dreimal geschluckt und habe es mir dann gefallen lassen. Und war dann später glücklich, daß wir diese Gelegenheiten der gemeinsamen Lektüre hatten. Man kann wohl Kinder nicht besser erfahren, als daß man ihre Lektüre wahrnimmt. Ihre Gefühle, Interessen und Ansprüche, Empfindungen werden sehr deutlich gemacht in dem, wie sie lesen und wie sich sich intensiv damit auseinandersetzen. Unser Sohn hat Ethnologie studiert. Ich habe auch einige seiner Bücher über Indianer gelesen. (...) So hat man über die heranwachsenden Kinder über die Lektüre immer wieder neue Erfahrungen sammeln dürfen."

Beleg Frau L. (1930) Schneiderin/Hausfrau: "Das wollte ich auch noch erwähnen, daß ich auch immer wieder durch das Gespräch mit meinen Kindern auf neue Literatur oder Autoren gestoßen bin und wir uns da auch immer noch viel austauschen."

Im Gegenzug erinnern sich einige meiner Befragten aus der Position des Kindes ebenso daran, daß sie von den Eltern - vor allem den Müttern - und Geschwistern Buchempfehlungen erhalten hatten. Dies war aber nicht in allen Familien möglich, z.B. im Fall von Frau L. (1950), die sich gerne mit ihren Eltern ausgetauscht hätte, sich ihnen aber bereits zum Beginn ihrer Gymnasialzeit intellektuell so überlegen fühlte, daß Gespräche über Literatur nur mit Freunden, später Kommilitonen zustande kamen.

2.0 Die außerfamiliären Institutionen

Nachdem ich in den vorigen Abschnitten auf die Bedingungen und Facetten der familiären Lesesozialisation und ihre Praxis eingegangen bin, werde ich im folgenden die Lesesozialisation der außerfamiliären Institutionen vorstellen und anhand entsprechender Belege dokumentieren. Zunächst geht es ganz knapp um die Lese- und Mediensozialisation im Kindergarten, woran anschließend die Grundschule sowie die Literalisierung ab Klasse 5 in den weiterführenden Schulen angesprochen werden.

2.1 Lese- und Mediensozialisation im Kindergarten

"Mediennutzung und Medienerziehung von Kindern gehört zu solchen Themen, die quasi in Wellen immer wieder Differenzen und Divergenzen herbeiführen zwischen Wissenschaft und Praxis, zwischen einzelnen Wissenschaften, zwischen Norm und Realität."[41] ) Diese Aussage bringt eine grundsätzliche Problematik zum Ausdruck, die in der Diskussion über die Inhalte der Erziehung in Kindergärten immer wieder thematisiert wird, und in der es seit einigen Jahren verstärkt auch um die Einbeziehung der unterschiedlichen Medienerfahrungen von Kindern geht. Gerade der Lesesozialisation im Kindergarten kommt heute eine vorrangige Bedeutung zu, denn neben der Familie ist der Kindergarten häufig die erste Institution, die weitere Normen der Lesesozialisation vermittelt.

Auf die pädagogischen und methodischen Inhalte der Kindergartenarbeit richtete sich in der Mitte der 60er, bzw. Anfang der 70er Jahre verstärkt die Aufmerksamkeit der Pädagogen, die unter unter anderem eine Diskussion über den Einfluß der Medien als "heimliche Miterzieher" auf das Verhalten von Kindern auslöste.[42] ) Lesesozialisierende Maßnahmen sind in der Kindergartenarbeit ein wesentlicher Teilbereich der gesamten Kindergartenerziehung. Wichtig ist dies besonders da immer mehr Kinder in Halbtagskindergärten oder in der Ganztagsbetreuung sozialisiert werden.[43] )

In dieser relativ frühen Phase der Lesesozialisation geht es im Elementarbereich weniger um die Lesefähigkeit, sondern vielmehr darum, mit der Kombination von Bild und erläuterndem Text umgehen zu lernen, die entsprechenden Zusammenhänge zu erfasssen und in Bezug zur eigenen Lebenswelt zu setzen. Der außerfamiliären Lesesozialisation kommt mittlerweile eine besondere Bedeutung zu, da die Buchnutzung im Kindergarten durchaus intensiver sein kann als die im Elternhaus.[44] ) Das Gruppenerlebnis ermöglicht weitreichende Interpretationen und das Ausleben gemütlicher Vorlesesituationen, weil das Lernen im Gegensatz zur Schule noch nicht leistungsorientiert ist. Bilderbücher und Sachbücher sind die traditionellen visuellen Vermittlungsmedien des Kindergartens, und dienen als Transporteur für die Weitergabe von Sachwissen, Märchen, Geschichten und Erzählungen.[45] ) Medienerfahrungen der Kinder mit dem Fernsehen werden dagegen im Kindergarten kaum bearbeitet oder in das Tagesgeschehen integriert.[46] ) Probleme, die ein hoher Fernsehkonsum in die Gruppen hineinträgt, wie z.B. gewaltätige Spiele - über die Kinder nicht-altersgerechte Sendungen verarbeiten - werden zumindest im Rahmen der Halbtagsbetreuung kaum aufgefangen. Im Gegensatz zur Lesesozialisation, die mir meine Informanten schilderten, gibt es heute im Rahmen der Betreuung im Kindergarten lese- und mediennutzungsfördernde Inhalte. Das liegt zum einen darin begründe, daß immer mehr Kinder einen Kindergarten oder Kinderladen besuchen, aber auch darin, daß die Betreuungszeiten immer länger werden. Wie die folgenden, raren, Belege meiner Informanten zur Lesesozialisation im Kindergarten skizzieren, hatte diese Institution für die heute etwa 30 jährigen und älteren Menschen in der Regel höchstens eine verwahrende Funktion, die wenig bleibenden Eindrücke hinterließ.

Von den insgesamt 60 Befragten besuchten lediglich sechs einen Kindergarten. In der Erinnerung von lediglich in zwei Fällen wurde dieser als relevant für die Lesesozialisation geschildert. Den anderen Informanten vermittelte man die Inhalte der Lesesozialisation bis zur Einschulung vorwiegend in der Familie.[47] ) Vier der sechs ehemaligen Kindergartenkinder hatten zu diesem Komplex nur spärliche Erinnerungen an ihre Kindergartenzeit. Die von Herrn Z.(1932) fiel in die Jahre des III. Reiches. Frau J.(1958) ging noch vor der Einschulung Anfang der 60er Jahre in eine solche Einrichtung. Herr J.(1961) besuchte während seiner Grundschulzeit gemeinsam mit seinem behinderten Bruder einen Sprachheil-Kindergarten in Hamburg. Er erinnerte sich an keinerlei pädagogische Inhalte, Spiele oder Bücher. Allein Herr P.(1952), der von 1958 bis 1963 nach der Schule in den Kindergarten ging, konnte sich an regelmäßiges Vorlesen dort erinnern. Gelesen wurde aus dem Repertoire der heute bereits als klassisch geltenden Kinderliteratur, wie den Bänden von Otfried Preußler: Die kleine Hexe, Das kleine Gespenst, Der kleine Wassermann und aus den Büchern von Astrid Lindgren.

Beleg Herr P.(1952), Polizeibeamter: "Lesen gelernt habe ich erst in der Schule. Und dann mußte ich viele Jahre lang nach der Schule den Kindergarten besuchen, weil beide Eltern berufstätig waren. Im Kindergarten wurde dann sehr viel vorgelesen z.B. 'Pipi Langstrumpf'. Dagegen zu Hause kann ich mich nicht daran erinnern, daß vorgelesen wurde."

Es ist spekulativ, aber anzunehmen, daß Herrn P. ansonsten nie vorgelesen worden wäre, da seine Eltern beide berufstätig waren und über die Lektüre einer Tageszeitung hinaus wenig Lese-Ambitionen besaßen. Herr P. erwähnte die Vorleseerlebnisse und Titel aus dem Kindergarten mehrfach, was als Indiz dafür zu werten ist, daß hier bereits gute Erfolgschancen der Lesesozialisation lagen, die aber in den Familien eher selten aufgegriffen wurden. Frau L. ging bis zu ihrer Einschulung in den Kindergarten und erinnert sich auch an Situationen des Vorlesens von bekannten Kinderbüchern.

Beleg Frau L.(1963), Archtitektin: "Wir haben das auch zum Teil nachgespielt, was wir da gehört hatten. Ich weiß das noch von 'Cornelius, dem Krokodil'."

2.2 Lesesozialisation in der Grundschule

Da der Schule das Privileg obliegt, die Techniken Lesen und Schreiben zu lehren, gehen ihre Aufgaben und Zielsetzungen in den Inhalten über die bis dahin wirksame Lesesozialisation der Kinder hinaus. Ob sie den Befragten zusätzlich Anregungen zum Lesen gab, wird im Anschluß an die grundsätzlichen Ausführungen zur Grundschule anhand der Belege aus den Interviews näher betrachtet.

Das heutige bundesrepublikanische Schulsystems entstand in den frühen 70er Jahren, da die Bestrebungen, das Schulwesen nach 1945 zu modernisieren und zu demokratisieren, erstaunlicherweise erst Mitte der 60er Jahre einsetzten. Erstaunlich, weil nach dem Ende des Dritten Reiches ein grundsätzlicher Neubeginn zwingend notwendig schien. Zunächst wurde jedoch neben Konfessions- und Zwergschulen wieder das streng geteilte dreigliedrige Schulwesen ausgebaut.[48] ) Im Gegensatz zum Gymnasium hat das neue System der Grundschule und Gesamtschule als gemeinsames Prinzip, daß sie alle Kinder eines Jahrgangs unabhängig von unterschiedlichen Begabungen, Interessen und Neigungen aufnimmt.[49] )

Beginnend mit der Einschulung galt es für alle Kinder, sich neuen sozialen Normen unterzuordnen: Sie müssen sich erstmals in einer großen Lerngruppe zurechtfinden, ein gruppenbezogenes Sozialverhalten entwikkeln, sich auf mindestens ein oder zwei neue Bezugspersonen konzentrieren und die neuen Anforderungen an ihr soziales "Ich" internalisieren. Erschwerend findet all dies unter Einschränkung ihrer bis dahin existierenden Freiräume statt.

Auch die Inhalte der Lesesozialisation verändern sich für die Kinder durch den Schulbeginn erheblich, da es nicht mehr ausschließlich um das Betrachten von Bildern und eine Erschließung von Texten über das Vorlesen geht. Die Einführung der Schüler in den selbständigen Gebrauch von Druckerzeugnissen verstärkt die Eigenleistung beim Lesen. Das bis dahin eher "passive" Lesen durch zuhören wird vom "aktiven" Selbst-Lesen abgelöst. Mit dem Schulstart der Kinder beginnen die meisten Eltern darauf zu warten, daß das Kind eigenständig lesen und sich gedruckte Inhalte selbst erschließen kann. Daß dieses Erlernen häufig bis zum Ende der dritten Klasse andauert, ist vielen Eltern vor dem Schuleintritt ihres Kindes nicht bewußt.

Während der Grundschulzeit werden die Elementartechniken eingeübt und verfestigt. Über die ersten Anfänge des Erkennens von Lauten und Buchstaben, dem Zusammenschleifen der Laute und Silben bis zum Wiedererkennen der Worte und dem Entziffern ganzer Sätze ist das Ziel, die Lesefähigkeit der Kinder bis zum Ende der vierten Klasse soweit auszubilden, daß sie umfangreichere Texte in Form von Ganzschriften eigenständig lesen und dementsprechend auch den Inhalt rekonstruieren können.[50] ) Die hierzu erforderlichen Unterrichtsmaterialien, insbesondere Erstlese-Lehrgänge - auf der Basis einer Fibel mit Begleitbüchern oder ohne die Fibel arbeitende Lese-Schreiblehrgänge - gibt es mittlerweile zu verschiedenen Unterrichtsmethoden.[51] ) Meine Informanten erlernten alle mit Hilfe einer Fibel das Lesen.

Der Erstleseunterricht dient also primär der Vermittlung der elementaren Lesekenntnisse; in Ergänzung zum Schreibunterricht bildet er in den ersten beiden Jahren das Fach Deutsch.[52] ) In der dritten und vierten Klasse werden erste grammatische Grundlagen behandelt und es findet ein Einstieg in die Lektüre zusammenhängender Texte und Ganzschriften statt.[53] ) Zahlreiche Themen des Lesens in der Grundschule sind beschränkt auf unterrichtsinterne Inhalte und knüpfen nicht an die spezifische Lesesozialisation des Kindes im Elternhaus an. Um existierende Defizite der Schüler aufzuspüren, ist es wichtig, daß der Unterricht den Kindern Gelegenheit gibt, ihre eigenen Medien- und vor allem Leseerfahrungen in das Unterrichtsgeschehen einzubringen. Daß eine in diesem Sinne erwünschte - erkennbare Zusammenarbeit der Institutionen Familie, Kindergarten und Schule in ihrer Schulzeit weitgehend unüblich war, belegen die Aussagen meiner Informanten, die im folgenden Abschnitt zu Worte kommen sollen.

Vor der Schule lesen wollen

Angeregt durch das Vorbild der Eltern oder älterer Geschwister hegten mehrere Befragte den Wunsch, bereits vor Beginn der Schulzeit lesen zu können. Manchmal wurden Texte eingeübt, um dann bei nächster Gelegenheit als Leseleistung vor Publikum vorgeführt zu werden. So lernte Herr M., einen Text auf dem Etikett der Maggi-Flasche auswendig, um anläßlich des Auffüllens einer leeren Flasche beim Kaufmann den Eindruck zu erwecken, er lese den Text laut vor.

Beleg Herr M.(1929), Grafiker: "Mit Lesen habe ich angefangen, als es hieß 'du kommst jetzt in die Schule'. Da habe ich mir dann sagen lassen, was auf der Maggiflasche stand. Und da bin ich dann, wenn ich einkaufen ging, um die Maggiflasche auffüllen zu lassen, dann bin ich also in den Laden und habe dann vor den Leuten so getan, als lese ich das auswendig Gelernte. 'Ja...die würzige Brühe... Und einmal wieder vollfüllen.' Und ich habe dann dort so die große Show abgezogen."

Mehrfach kam es zu Schilderungen dieser kleinen künstlerischen Einlagen in den Alltag, indem vermeintliche Lesekenntnisse vorgeführt wurden um zu verblüffen, in dem man zeigte, daß man bereits lesen könne. Nicht nur in die Welt der Erwachsenen ließ es sich so eindringen, sondern auch in die bis dahin verschlossenen Bereiche der älteren Geschwister, die sich bereits auf dieser Verstehensebene bewegten. Herr P. war bemüht als Leser zu glänzen, indem er einzelne Textpassagen aus der Fibel seiner Schwester einstudierte, um diese dann in der Schule "vorzulesen":

Beleg Herr P.(1952), Polizeibeamter: "Also erstmal wollte ich schon genauso früh lesen können wie meine ältere Schwester, die ist anderthalb Jahre älter als ich. Insofern habe ich, als ich in die Schule kam, den Lehrer belügen können, indem ich kleine Texte auswendig gelernt habe, und so getan habe, als könnte ich ganze Bücher schon lesen. Und ich habe das dann in der Schule, in der ersten Klasse vorgelesen, obwohl ich das noch gar nicht konnte."

Das Vorbild der älteren Schwester hatte auch Frau P. neugierig und geradezu begierig auf das Lesenlernen werden lassen.

Beleg Frau P. (1936) Verkäuferin/Erzieherin: "Also mein Interesse des Lesenlernens war hochmobilisiert. Und dann gab es noch ein Buch in einem grünen Leinenband - ich war im sechsten Lebensjahr und ging noch nicht zur Schule - das hieß der "Zigeunerfriedel" und meine ältere Schwester hatte mir den Titel vorgelesen. Und sie sagte dann immer, wenn ich zur Schule gehe, dann liest sie mir daraus vor, oder ich darf es selber lesen. Somit war mein höchstes Ziel, ich möchte zur Schule gehen und Lesen lernen und dieses Buch lesen. "Zigeunerfriedel", das war mit so viel Herrlichkeit für mich umgeben - nur leider kam es nie dazu."

Das Bemühen der Befragten, Lesekenntnisse vorzutäuschen, ist als Indiz dafür anzusehen, daß das Lesen als etwas Wichtiges und Erstrebenswertes, als eine Art Schlüssel zur Welt der Erwachsenen und älteren Kinder empfunden wurde. Das Vorbild älterer Geschwister war hier als Antrieb für die Jüngeren von großer Bedeutung, gaben sie doch häufig ihre Lesestoffe an die kleineren Geschwister weiter oder empfahlen ihnen als sie älter waren Bücher.[54] )

Unter den Informanten der ersten und zweiten Generation erwähnten einige, daß ihre Eltern die Schulbücher älterer Geschwister vor der Einschulung regelrecht von ihnen fernhielten, mit dem Argument, "daß sie sich sonst später in der Schule langweilen würden".

Beleg Frau M. (1959), ausgeb. Lehrerin/Hausfrau: "Ich weiß auch nicht, ob ich das wirklich in der Schule gelernt habe, weil mein Vater mir erzählte, daß ich, als meine Schwester zur Schule kam, immer mit in die Fibel geguckt habe und mitlesen wollte. Meine Schwester ist zwei Jahre älter, und ich bin dann frühzeitig eingeschult worden."

Für die "Volks"-, bzw. später "Grund"-Schulzeiten[55] ) der drei Generationen werde ich im folgenden für jede Generation spezifische Belege anführen. Hierbei sind für die erste und die zweite Generation die Unterschiede eher gradueller Natur, da sich bei ihnen zahlreiche Parallelen in der schulischen Sozialisation bis zum Ende der 50er Jahre ergeben.

Die erste Generation (Jahrgänge 1929 bis 1949)

Die meisten meiner Informanten blickten mit großen Erwartungen auf die vor ihnen liegende Schulzeit und ließen sich gerade in den Anfängen für die Unterrichtsinhalte begeistern. Für sie implizierte die Einschulung einen weiteren Schritt hin zum Erwachsenwerden, dem sie den entsprechenden Ernst und Ehrgeiz zukommen ließen.

Beleg Herr M.(1929), Grafiker: "Ich habe dann auch an dem Tag an dem ich in die Schule kam, mir von meiner Mutter den Hausschlüssel geben lassen und habe selber die Tür aufgeschlossen, also das fand ich nun sehr bedeutsam und wichtig. Leider hatte ich nur einen kurzen Schulweg von nur 5 Minuten, auf dem ich also bestens überwacht und beaufsichtigt werden konnte. (...) Und eine sehr schöne Fibel haben wir gehabt in der Schule. Schautafeln und so etwas gab es nicht. In der Fibel wurde ganz viel gelesen (...) und das waren die Bände mit Heini und Lene. Das waren die Figuren, die da durch gingen. Das fing an mit Buchstaben und ging dann gleich in Worte über. Mir machte es in der Volksschule auch viel Spaß: sobald man da etwas besser lesen konnte, kriegte man Worte an die Tafel geschrieben, so zehn Reizwörter und daraus mußte man dann selber eine Geschichte machen. So Reizwörter, die unterschiedlichsten Wörter. Also das hat mir auch immer Spaß gemacht, und da war ich auch gut drin. Aber andere Deutschbücher gab es in der Volksschule eigentlich keine. Es wurden zwar Aufsätze geschrieben, aber an weitere Schulektüre, daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Wir hatten noch ein Heimatkundebuch.

Die Schulpädagogik, unter deren Einfluß die Befragten der ersten Generation unterrichtet wurden, war häufig von der Strenge und Rigidität der Lehrer geprägt. Einige von ihnen besuchten noch in der Zeit des Dritten Reiches eine Grundschule, mit deren Pädagogik es galt, die Schüler im Sinne nationalsozialistischen Gedankengutes zu disziplinieren. In den letzten Kriegsjahren wurde der Schulbesuch allerdings infolge der Bomben-angriffe und daraus resultierenden Evakuierungsmaßnahmen unterbrochen.

Ich zitiere im folgenden zunächst Frau P. in einer längeren Passage, weil ihre Ausführungen stellvertretend für zahlreiche Familien und die Schulsituationen ihrer Generation Gültigkeit besitzen.

Beleg Frau P.(1936), Verkäuferin/Erzieherin: "Er (der Vater) war als Eingezogener nicht direkt Soldat, er war bei der Feuerwehr, beim Heimatschutz. Dort war man während der Bereitschaft sehr intensiv mit Bastelarbeiten befaßt. Und auch dort gab es bei uns hervorragende Bastelbücher, die haben mich unheimlich interessiert, und ich wollte die auch zu gerne lesen. (...) Nach dem ersten Schuljahr sind wir ausgebombt und alle Lektüre, die mir so lieb und teuer war, die war mir nicht mehr greifbar. In der Schule hatten wir eine Fibel, auf der ersten Seite war ein wunderschöner Apfelbaum mit rosa Blüten und darunter war ein großes "O". Die ersten Buchstaben fand ich, hatten mit Lesen überhaupt nichts zu tun, für mich war die Fibel erst interessant dort, wo es Text gab. "Heini, Heini, ach ist Heini dumm, stippt mit beiden Fingerchen im Tintenfaß herum!". Das war beim "I" und dann später dieser Text dazu. Das war meine Fibel. Ich weiß, ich konnte sehr früh und dann auch sehr gut lesen. Mein Interesse war auch damals schon immer, daß ich Informationen haben wollte. Durch die Kriegsumstände war Lektüre sehr dünn gesät. Wir zogen nach langem Hin und Her zu Verwandten. Dort gab es ein Buch das hieß:'Des Pfarrers Kinder' und spielte im 30jährigen Krieg. Dann war ich so anderthalb Jahre zur Schule gegangen, zwar mit großen Unterbrechungen, aber ich konnte flüssig lesen. Und dann durfte ich dieses Buch haben und lesen und daraus habe ich sehr viel Geschichtliches gelernt. (...) Als wir dann in Winsen an der Aller waren zur Kinderlandverschickung, da hatten wir kaum Möglichkeiten zu lesen, keine Bücher. Als ich dann nach Hamburg zurückkam, da hatten wir zunächst keine Schule. Ich hatte das große Glück, zunächst mit zehn anderen Kindern zusammen eine Privatlehrerin aufsuchen zu dürfen. Um überhaupt Leseübungen zu haben, brachte jeder mit, was er halt so hatte. Ich hatte von meinem Onkel ein altes Märchenbuch und das war dann halt meine Leseübungslektüre."

Dieses Beispiel läßt ebenfalls deutlich werden, daß sich die während des Krieges absolvierten Schuljahre für viele Informanten dieser Gruppe in der Erinnerung zu einer unruhigen Zeit verdichten, die mit häufigen Schul- und Lehrerwechseln verbunden war. Zugleich aber stellte der Schulunterricht doch auch für sie einen Ordnungsrahmen im zunehmend ungeregelten Alltag der Kriegsjahre dar. Es ist für die Informanten der ersten Generation durchaus typisch, daß einige von ihnen durch Evakuierung einen Teil ihrer Grundschulzeit in einem Kinder-Landverschickungs-Lager oder als Folge der Flucht in einer Dorfschule verbrachten.[56] ) Unter den dortigen Gegebenheiten fiel den Schülern eine Konzentration auf die Lektionen des Lehrstoffes oft schwer, da sie durch die herrschenden Umstände stark abgelenkt waren. An die Effektivität eines kontinuierlichen Unterrichtes konnten diese Provisorien sicherlich nicht heranreichen.

Beleg Frau L.(1930), Schneiderin/Hausfrau: "Im KLV-Lager war der Unterricht nicht besonders, und das war auch in dieser Phase des Krieges, wir wußten, daß unsere Eltern praktisch jeden Tag eine Bombe auf den Kopf bekommen konnten, und wir waren sehr abgelenkt von der Schule. Wir sahen die Bomberverbände am Himmel fliegen. Bei blauem Himmel konnte man das unheimlich gut sehen, die zogen so weiße Streifen hinter sich her. (...) und wir wußten ja auch nicht, wo die hinflogen. Immer die Angst, sie erwischen jetzt das eigene Zuhause. Das war kein richtiger Schulunterricht mehr. Auch die Lehrer, die waren schlecht dran. Also aus der Zeit kann ich von Lesen und Literatur gar nichts sagen."

Einige Familien schickten ihre Kinder auch in Eigeninitiative auf das Land zu Verwandten. Herr Z. beschreibt, wie sich seine Volksschulzeit, die zunächst in Hamburg begann, dadurch gestaltete:

Beleg Herr Z.(1932), Kraftfahrzeugmechaniker/Gewerbelehrer: "1938 bin ich im August eingeschult worden. Ich glaube, es kann sein, daß ich auch erst 1939 eingeschult worden bin. Aber wenn ich nachrechne, dazu 12 Jahre Schule, und durch die Umstellung ein Jahr verloren, da war ich dann 1952 mit dem Abitur fertig. Wir haben ja ein Jahr verloren, es wurde von Frühjahr auf Herbst umgestellt, und dann wieder zurück. (...) Nun muß ich dazu sagen, daß ich während der Kriegszeit, bzw. während der ganzen Schulzeit bis 1945 eigentlich die ganze Zeit unterwegs war. Für die Volksschulzeit hatte man ein kleines Zeugnisbuch und da steht eigentlich immer nur drin: "Keine Beurteilung, da verschickt", "Keine Beurteilung da verreist": Ich war also auf, ich weiß nicht wieviel Schulen, auch bei meiner Großmutter in Gumbinnen, bei meiner Tante in Springen, dann bei einer anderen Tante in Alt-Kumen, überall und im Grunde genommen ständig irgendwo anders.(...) Ich mußte nach Ostpreußen, während der Schulzeit wohl etwa für ein halbes Jahr. Dann habe ich gewohnt in Altkuhlen, Eitkau hieß das dann nachher, da mußte ich von dort immer mit dem Zug nach Ewenrode fahren. Das heißt, in dem Ort gab es kein Gymnasium, so daß ich also immer dort jeden Morgen mit dem Zug hingefahren bin. Und nachher in Garßen (?) also nach dem Krieg, das lag also etwa 5,6 Km außerhalb von Celle. Da sind wir mit dem Fahrrad gefahren. bzw. im Winter mit dem Zug."

Das Bemühen, nach dem Krieg wieder einen geregelten Unterricht aufzunehmen, erwies sich in vielen Gegenden als schwierig, denn es fehlten nicht nur geeignete Räumlichkeiten, sondern auch Materialien sowie befähigte Lehrkräfte. Zudem mußten in dieser Interimszeit Lehrer und Schüler vor allem seelische Probleme bewältigen. Wie problematisch der Unterricht mit einem Teil der "Kriegskinder" auch für die Lehrkräfte gewesen sein muß, gerade in so beengten Lernsituationen wie der Dorfschule, illustrieren die Ausführungen von Frau Z. In ihrer Aussage geht sie außerdem darauf ein, daß sie als Volksschülerin nach dem Krieg für 1 1/2 Jahre nach Holland verschickt wurde, wo die Schulen mit Lehrmaterialien bereits besser ausgestattet waren als in Deutschland.

Der Ausschnitt aus dem Gespräch mit Frau Z. wird absichtlich in einer längeren Passage zitiert. Denn auch wenn es sich hier um ein außerordentliches Beispiel handelt, so darf doch nicht unterschätzt werden, wie vielen anderen begabten Kindern und Jugendlichen ihrer Generation es genauso ergangen sein muß. Der Erinnerungsprozeß während dieses Gesprächs fiel Frau Z. nicht leicht, dennoch teilte sie sich mir mit großer Souveränität mit.[57] ) Der Inhalt dieses Zitats führt über die Grundschulzeit hinaus, verweist aber dabei auch auf eine weitere Spezifik für die Befragten dieser Generation: zeitweiligen Unterricht für Stadtkinder in einer Dorschule, in der sich die Lehrinhalte der Klassen eins bis acht häufig nur schwer voneinander abgrenzen ließen.

Beleg Frau Z.(1940), Weberin/Hausfrau: "Und meine Mutter hat dann 1954 wieder geheiratet, und in dieser Zeit sind wir da in Altenhagen zur Schule gegangen. Und ich bin ziemlich lange, daß muß so in der zweiten Klasse gewesen sein, in Holland gewesen. Und zwar in so einer Art Kinderlandverschickung wie es das dann auch nach Schweden und so gab. Aber immer von unserer Kirche aus. Ich bin also dort in einer mennonitischen Familie gewesen mit fünf Kindern. Ziemlich lange. Ich bin dann dort auch zur Schule gegangen, und da habe ich dann auch holländisch Lesen und Schreiben gelernt. Also ich habe eigentlich alle Systeme gelernt von Kleinbuchstaben hin zu Großdruckbuchstaben bis hin zu Silben - also Ganzwortmethode und Lautschrift. Also ich hatte das alles durchgemacht bis zum Ende der zweiten Klasse. Als ich in Holland dann war, da hatte ich auch einen guten Lehrer - die hatten dort viel besseres Material als bei uns: Hefte mit tollem Papier und richtigen Linien - da hat man mir dann mein altes Material weggenommen und ich kriegte eine richtige Feder zum Schreiben und mußte richtig schön Schreiben lernen, also Schönschreiben. Das ging ja in Deutschland gar nicht, da hatten wir ja statt Papier noch Tafeln gehabt. Wir hatten da so einen ganz alten Lehrer gehabt. Der war reaktiviert worden, der hat in dem Dorf gelebt. Und der hat mir auch nicht geschadet, ich mochte den eigentlich sehr gern. Ich war da bis zur 8. Klasse. Also von der 1. bis zur 4. Klasse waren wir alle in einem Raum. Und da wir so viele, also fast 40 Schüler waren, mußten wir dann bis zur 8. auch noch alle in einem Raum bleiben. (...) Ich habe am Anfang sehr schnell lesen gelernt. Ich weiß nicht wie, aber in Holland in der zweiten Klasse konnte ich dort alles lesen, was ich mußte. Zum Abschied in Holland bekam ich ein Buch über Verkehrserziehung geschenkt und das konnte ich dann auch lesen. Und nach den Jahr in Holland hatten Sie keine Probleme hier wieder Anschluß zu finden? Für mich war die Grundschule eigentlich die ganze Zeit eine einziges Drama. Man muß sich mal vorstellen, man sitzt 4 Jahre in einer Klasse und hört 4 Jahre lang immer das Gleiche. (...) Unser Lehrer hat zwar in Stufen unterrichtet. Immer mit einem Jahrgang laut gearbeitet und die anderen mußten still arbeiten. (...) Also bis zur vierten Klasse war es wirklich ein Drama, und ich war wirklich ein unerträgliches Kind. Und dann von der vierten bis zur achten Klasse. Also in der 8. Klasse habe ich fast nur noch draußen auf dem Schulhof gesessen, ich war nicht zu ertragen. Es waren sehr viele Kinder in meiner Klasse, die da wohl eigentlich nicht hingehörten. Aber der Lehrer konnte nichts machen. Wir waren auch 1940 ein unheimlich starker Jahrgang: 16 Kinder. Das war für eine Dorfschule einfach zuviel, normalerweise waren es 5 oder 6 Kinder in der Klasse. Und es waren einige so Kaliber wie ich, also es muß für den Lehrer auch furchtbar gewesen sein. Und er hat sich für uns unheimlich reingekniet, gerade auch in Mathematik, da hat er mit uns unheimlich viel extra gemacht, wir haben bestimmt den Stoff der zehnten Klasse auch noch gemacht. (...) Ja, also der Lehrer war wirklich fantastisch. Was der an uns geleistet hat, mit dieser Nachkriegsjugend ... Wir hatten ja auch alle 'ne Macke, das darf man ja auch nicht vergessen. Also ich habe es gebracht bis - ich mag es heute gar nicht laut sagen - bis anderthalb Stunden in der Klasse zu schreien, und zwar aus voller Kehle, bis er mich rausgeschmissen hat. Ich war nicht zu ertragen als Kind. Ich habe geheult und geschrien vor Wut - immer. Ich hab das erst aufgehört, als ich so 13 oder 14 war. Dann habe ich angefangen, nicht mehr zu reden, so bis zu 6 Wochen. Man darf das nicht vergessen, was man da als Kind so auf der Flucht erlebt hat, das ist eigentlich ganz weit weg, aber jetzt durch diese Aufarbeitung hier, ne..."

Wer nach 1945 als Flüchtlingskind in fremder Umgebung eine Dorfschule besuchen mußte, fühlte sich häufig stigmatisiert. Dies offenbarte sich nach außen vor allem in den Wohnverhältnissen, den knappen finanziellen Mitteln, den wenigen persönlichen Besitztümern und nicht zuletzt in der Schule durch einfache und schlechtere Kleidung und einen anderen Sprachduktus. Zudem wurden Flüchtlingskinder und ihre Familien häufig von den einheimischen Kindern und Jugendlichen im Dorf gehänselt oder verspottet.[58] ) Entsprechend der sozialen und finanziellen Situation der Familien waren Bücher und andere Lesestoffe knapp. Mancher interessierte Leser wie Herr K. war auf Gönner angewiesen. Herr K. versuchte seine Außenseiterrolle durch Leistung zu kompensieren und fand zugleich im Pfarrer einen Förderer, der dem wißbegierigen Schüler zu Lesestoff verhalf:

Beleg Herr K.(1934) : "Und dann sind wir 1946 nach Westfalen vertrieben worden. Dort hatte ich ja keine eigenen Spielsachen, und der Pastor hat sich dort ein bißchen um uns gekümmert. Und ich konnte beim Pastor etwas christliche Bücher lesen, die hießen "Saat und Ernte". Sie gefielen mir aber sehr gut und spielten meist im Mittelalter, und in der Zeit der Bauernkriege. Da lernte ich eine ganze Menge über Geschichte. Wie Ulrich von Hutten, Franz von Säckingen und alle diese. Ich habe über die sehr gerne gelesen. Wir wohnten beim Bauern, und nach der Schule mußte ich dann gleich auf dem Hof helfen. Und wenn dann noch Zeit war, habe ich sehr gerne gelesen. Die Bücher habe ich geradezu verschlungen."

Im obigen Zitat klingt bereits der zu verzeichnende "Wissensdurst" und Bildungsdrang besonders der Angehörigen der ersten Generation an. Im Kapitel VI. werde ich auf dieses Lesen mit Bildungsabsicht noch näher eingehen. Allen Informanten der ersten Generation ist gemeinsam, daß die Erinnerungen an den Unterricht in der Volksschule, bis auf extreme Situationen, und einzelne spotartig "aufblendende" Ereignisse, insgesamt nicht sehr intensiv sind.

Beleg Frau L. (1930), Schneiderin/Hausfrau: "Wir hatten eine Fibel und arbeiteten nach der Buchstabiermethode. Die erste Aufgabe war eine Tafel voll 'i' zu schreiben, und mit 'i' begann auch die Fibel. Die Figuren hießen Heini und Lene. Ich habe ohne Probleme und schnell das Lesen gelernt. (...) An die Grundschulzeit habe ich sehr gemischte Erinnerungen. Ich war bei den guten Schülern, gehörte zu den 'Schätzchen', wie wir es nannten. Aber die Kinder aus armen Familien waren auch in der Schule benachteiligt. Für Versagen bekamen sie Prügel. Das verwirrte mich total in meinen Gefühlen für den Lehrer, der zu mir und anderen guten Schülern so freundlich und lustig war. Dabei schlug er 'nur'mit dem langen Rohrstock auf den Hintern und nur im Ausnahmefällen Mädchen."

Das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern prägte die Erinnerung nachhaltig und diente nicht nur in der ersten Generation als Leitlinie für das Erzählen von der Schulzeit, so daß neben dem Bemühen um das Lesenlernen die Lehrerpersönlichkeiten im Mittelpunkt der Retrospektiven über die Schuljahre standen.

Zweite Generation (Jahrgänge 1950 bis 1960)

Die Erinnerungen an die ersten vier Schuljahre der nach 1949 Geborenen sind auch noch in Teilen von den Nachwirkungen des Krieges geprägt: Oftmals standen auch ihnen zunächst keine ausreichenden Lehrmittel zur Verfügung, oder es wurde auf Vorkriegsmaterialien zurückgegriffen. Die Lehrerschaft war teilweise überaltert und die Schule nach wie vor stark hierarchisch gegliedert. Recht kritisch beurteilte nicht nur Herr B. die Situation aus den 50er Jahren:

Beleg Herr B.(1950), Bankkaufmann/Gewerbelehrer: "Wir hatten auch in der Grundschule sehr viele reaktivierte Lehrer, die zum Teil schon über siebzig waren und dazu Klassenfrequenzen von fast 40 Schülern, manchmal mehr. Und gerade unser Deutschlehrer. Dann später, mit 'Mario und der Zauberer' hatte er ja für seine Generation schon ein nahezu revolutionäres Buch ausgewählt. Ansonsten, als Geschichtslehrer hat er dann aber nur von seinen Erlebnissen im Balkan berichtet. Wie er da mit seinem Esel als Soldat durch die Lande gezogen ist. Aber über die Hintergründe, die zum Krieg führten, hat er nie berichtet."

Im Gegensatz zu den Kriegsjahren fand der Unterricht allerdings wieder regelmäßig statt, und in den meisten Klassen wurde mit einer Fibel nach der Lautiermethode gearbeitet. Vereinzelt lasen die Lehrkraft oder, wie zur Weihnachtszeit, in den Feierstunden einzelne der "guten Leser" vor. Der hier speziell interessierende Komplex des "Lesenlernens" stellte sich im Schulalltag als eine von mehreren Lernanforderungen dar. Dieser zunächst neue Aneignungsprozeß der ersten Schulwochen verblasste in den Erinnerungen nicht selten zu lapidaren Aussagen in der Art von: "Und als ich dann lesen konnte, habe ich gerne gelesen." Auch die Erinnerungen zum Umfang des über die Schule hinausgehenden Lesens in der Freizeit sind in ihrem Aussagewert sehr unterschiedlich und wurden hauptsächlich von bereits in der Kindheit und Jugend habitualisierten Lesern erinnert. Die bereits für die erste Generation erwähnte ungeduldige Neugierde in Bezug auf den Schuleintritt fand sich auch in den Aussagen der zweiten Generation wieder, für die hier zunächst Frau M. zu Worte kommt.

Beleg Frau M.(1959), ausgeb. Lehererin/Hausfrau: "Ich wäre nach Termin sonst ein Jahr später in die Schule gekommen. Ich hatte knapp über den Termin Geburtstag und bin also ein Jahr früher als mein Jahrgang zur Schule gekommen. (...) Und es wird mir erzählt, daß ich sie dann sozusagen gleich durchgelesen habe. Trotzdem kann ich mich an die erste Seite der Fibel erinnern, die anfing "Tut, Tut, ein Auto kommt". Sonst lesen lernen: Wir hatten Karten hängen im Klassenraum wo Wörter, also ganze, draufstanden: Maus, Auto, aber mehr weiß ich nicht."

Zur Erzählorientierung für ausführliche Erinnerungen an die Grundschulzeit dienen auch in der zweiten Generation extreme oder ungewöhnliche Erlebnisse aus dem Schulleben. Als Synonym für den Prozeß des Lesenlernens steht das Arbeiten mit der Fibel, wie die folgenden Zitate anschaulich belegen.

Beleg Frau E.(1954), Sozialpädagogin: "Wie das Lesen in der Schule unterrichtet wurde, weiß ich nur noch ganz ungefähr. Wir hatten eine Fibel und haben so Laute und Silben gelernt. "Wau Wau". Unten waren die Silben und dazu ein Verbindungsbogen. So haben wir das gelernt, und an die Tafel wurde auch noch sehr viel geschrieben. Es ging dabei viel ums Ablesen von der Tafel. Wir haben Lesen und Schreiben zusammen gelernt. Zuerst haben sie uns die Buchstaben alle einzeln schreiben lassen, aber dann die Silben, und es sollte alles zusammengezogen werden. An die Grundschulzeit habe ich so gut wie keine Erinnerung mehr. Ich weiß nur, daß wir Texte von der Tafel im Chor abgelesen haben. Aber ansonsten habe ich daran keine Erinnerung mehr."

Die Routine des Schulalltags ließ die Euphorie und großen Erwartungen anläßlich der Einschulung recht schnell abflauen und in Ernüchterung übergehen.

Beleg Frau B.(1953), Gesamtschullehrerin: "Ja, ich bin zuerst zwei Jahre in die Schule Landwehr gegangen, und dann sind wir nach L. gezogen, 1962. Und dann bin ich hier in der Schule gewesen. Wir hatten diese Fibel 'Tut, tut, ein Auto'. Das war die Ganzwortmethode. (...)" Gab es bereits in der Grundschule kleine Lektüren? "Ich kann mich da an nichts mehr erinnern. Wirklich nicht. Mmmhh... Das kann ich nicht eindeutig sagen, ich erinnere mich einfach nicht mehr daran. Aber ich weiß noch, daß mir das Arbeiten mit der Fibel wirklich Spaß gemacht hat. Und auch das Lesen in der Schule, ich hatte auch keine Schwierigkeiten beim Lesenlernen. Das überhaupt nicht. Ich habe nur über die Schule hinaus nicht gerne gelesen. Im Zusammenhang mit der Grundschule habe ich aber auch keine negativen Erinnerungen."

Während der Gespräche ergaben sich - wie es bereits im obigen Beleg anklang - nur spärliche Schilderungen zu den Unterrichtsmethoden und Materialien der Klassenausstattung. Der normale Unterrichtsalltag wird in den Erinnerungen zur Marginalie, entsprechend vage ist auch die Rekonstruktion bei Frau Sch.:

Beleg Frau Sch.(1958), Pharmazeutisch-Technische Assistentin: "Also, ich glaube, ich konnte keine Buchstaben lesen, als ich in die Schule kam. Wir hatten eine Fibel und haben nach der Ganzwortmethode gelernt. Ich habe gerne Lesen gelernt, aber nicht so schnell, wie es die Kinder heute lernen. Leider kann ich mich an die Grundschulzeit kaum erinnern. Gut noch an unsere Fibel, an kleine Kärtchen mit einem Buchstaben und dazu ein Bild von einem Gegenstand, der mit diesem Buchstaben beginnt. An ein kleines Lese-Heftchen, in dem eine kleine Katze durch alle Geschichten führte. Aber was die Unterrichtstunden oder den Lesestoff betrifft, weiß ich nichts mehr. Vor Weihnachten machten wir es uns meistens in der Klasse gemütlich, und auch im Religionsunterricht war es schön. Vorlesestunden gab es aber höchstens in der Adventszeit.

Weitere, über die Fibel hinausgehende Lesebücher in der Grundschule erwähnte ansonsten nur Frau N., der das Buch offensichtlich wegen

eines Mädchennamens und nicht wegen der Inhalte und Texte im Gedächtnis haften blieb:

Beleg Frau N.(1957), Buchhändlerin: "Wir hatten dann ab der 2. Klasse ein gelbes Lesebuch, das hieß "Der bunte Luftballon", ein gelber Einband, und vorne drauf war ein Mädchen mit einem Luftballon in der Hand abgebildet. Das Buch haben wir aber im Unterricht nur wenig benutzt. ich habe da dann immer zu Hause drin gelesen. Ein Mädchen hieß 'Nele'. Den Namen werde ich nie vergessen."

Dritte Generation (Jahrgänge 1960 bis 1970)

Die Aussagen der dritten Generation unterscheiden sich von denen der beiden anderen vor allem hinsichtlich der Unterrichtsmethoden für das Lesen- und Schreibenlernen. Fast alle Befragten dieser Generation haben mittels der "Ganzwortmethode" das Lesen erlernt.[59] )

Auch diese Informanten freuten sich als Kinder auf den Schuleintritt. Genau wie in den Schülergenerationen vor ihnen, waren gerade die guten Schüler von den Unterrichtsinhalten der ersten Klassen enttäuscht. Wenige schildern Schwierigkeiten mit dem Lesenlernen, und - worauf später noch eingegangen wird - die Linkshänder wurden nicht länger umerzogen. Diese "Modernisierung" des Unterrichtes wirkte sich allerdings nicht auf die Intensität und Qualität der Erinnerungen aus. Im folgenden möchte ich einige der Befragten der dritten Generation zu Worte kommen lassen, um einen Eindruck ihrer Erinnerungen an die ersten Schuljahre zu vermitteln. Hier werden positive Erlebnisse, aber auch Sorgen und Nöte der Schüler deutlich.

Beleg Frau H.(1962), Buchhalterin: "Ich bin mit sieben Jahren eingeschult worden, obwohl ich bereits mit sechs schulreif war. Ich war aber mit sechs so groß wie eine Viereinhalbjährige und sollte deshalb ein Jahr später in die Schule. Als ich dann mit sieben eingeschult wurde, konnte ich wortweise lesen; so dann und wann mal etwas Einfaches. Ich habe dann in der ersten Klasse anhand einer Fibel lesen gelernt. Das war zum Beispiel: "Tom malt Uta" oder "Tom hat einen Stock". Das weiß ich noch, das waren so Standardsätze. Ich fand das ganz schrecklich langweilig. (...) Und wir wurden aus meiner Erinnerung heraus ziemlich gebremst. Wenn jemand nach vorne wollte, das ging überhaupt nicht. Und ich glaube, als ich angefangen hatte zu lesen, da habe ich auch ziemlich schnell Bücher entdeckt, und dann habe ich auch recht viele Bücher geschenkt bekommen."

Die mündlichen Erinnerungen an die Grundschulzeit wurden immer wieder mit dem ersten Lehrmaterial, vor allem der Fibel, verknüpft. Hervorgehoben wurden ferner besondere Ereignisse, wie die Teilnahme an Wettbewerben oder besonders intensive Unterrichtserlebnisse.

Beleg Herr L.(1965), Architekt: "Also Grundschule: Ich konnte schon ein bißchen lesen, das hatte ich mir selbst beigebracht aus Neugierde. Aber auch nicht so toll, daß ich schon alles selber lesen konnte. Wir hatten die Fibel "Die Bunte Welt". Das war aber irgendwie eine andere, als ich von anderen größeren Kindern kannte. Das war aber mehr die Methode, nach Silben getrennt zu lesen. Mmhhh... Ansonsten kann ich mich an Texte, die mir als Lektüre her in Erinnerung geblieben sind, da kann ich mich für die Grundschulzeit nicht dran erinnern. Sehr stolz war ich, als ich in der Klasse die "Leseolympiade" gewonnen hatte. Also das war ein Wettbewerb in der Klasse. Also unsere Klassenlehrerin war so eine zentrale Figur und deckte fast alle Fächer ab. Sie war zugleich fortschrittlich und mütterlich und ich denke, daß sie sehr engagiert war. Wir hatten auch eine Klassenbibliothek organisiert, mit dem Hintergedanken, die 5 Minuten-Pausen sinnvoll zu verbringen. Bücher ausgeliehen habe ich da nicht, aber es gab Bilderbücher und kleine Schriften, um sich in der Pause zu beschäftigen."

Ein derartiges Engagement, wie es Herr L. von seiner Grundschullehrerin berichtet, fand sich selten in den Schilderungen, in der Regel wird der Lese- und Schreibuntunterricht eher als langweilig und ohne Höhepunkte dargestellt.

Wer als Schüler in der Grundschule mit Lernproblemen und Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, dessen Erzählorientierungen wurden von diesen Erfahrungen und nicht von den Inhalten und Fortschritten des Unterrichts geprägt.

Beleg Frau A.(1965), technische Zeichnerin: "Aus der Erinnerung heraus würde ich sagen, meine Oma hat viel mit mir geübt, denn meine Mutter mußte zu der Zeit meine andere kranke Oma betreuen. Ich hatte in der ersten Klasse den Anschluß an das Klassenlernziel verloren, da ich zu Hause während Omas Krankheit zuwenig gefördert wurde. Meine andere Oma übte beim Einhüten das Lesen mit mir. In der Schule wurden höchstens die Voraussetzungen für das Lesen geschaffen. Den Schwerpunkt möchte ich aber doch bei der Betreuung durch meine Oma legen. Nach welcher Methode wurden Sie unterrichtet? "Wir hatten eine Fibel nach der Lautiermethode und später Lesebücher. Ich habe das Lesen eher langsam gelernt. Nachdem ich wieder den Anschluß an die Klasse hatte, hatte ich auch keine Abneigungen mehr. Als ich erst mal lesen konnte, habe ich viel und gerne gelesen."

Auch Herr R. hatte Probleme beim lesen, besonders nach der umzugsbedingten Umschulung, nach der er im Lernpensum hinter seinen neuen Klassenkameraden zurückstand. In seinem Fall ermöglichte das Engagement der Eltern ihm den Anschluß an das Klassenniveau.

Beleg Herr R.(1960), Betriebsprüfer: "Mit dem Lesen ging es erst in der Schule los. Ich habe mit einer Buchstabiermethode zuerst Lesen gelernt, also die Laute. Das hatte ich ein halbes Jahr in der Schule Eberhofweg, und dann sind wir umgezogen nach A. und dann hatte ich auf einmal Ganzwort-Methode. Und hab' dann ein paar Wochen sehr viel geweint, hatte dann aber bald auch keine Schwierigkeiten mehr, weil sich meine Eltern ganz viel mit mir hingesetzt haben. Das war dann eine andere Fibel. In L. hatten wir zuerst keine Fibel und in A. hatten wir die mit Jochen. "Tut, Tut ein Auto". Haben Sie leicht lesen gelernt? Sie erwähnten, daß Ihre Eltern Ihnen viel helfen mußten? "Also ich hatte keine Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß ich so ein besonders guter Leser war, der ich auch nie geworden bin, besonders, wenn ich unter Zeitdruck stand. Im Urlaub ja, da habe ich gelesen. Ich habe anfangs eigentlich nur für die Schule gelesen. Als ich in das lesefähige Alter kam, habe ich eigentlich wenig Anstalten von mir aus gemacht."

Linkshänder

Schwierigkeiten in der Schule hatten nicht nur Kinder, die nicht so rasch lesen lernten wie es der Unterricht vorgab, sondern auch die "Linkshänder", von denen erwartet wurde, daß sie lernten mit der rechten Hand zu schreiben.

So ergab sich während der Interviews, daß die Linkshändigkeit eine weitere Leitlinie des Erzählens darstellte, die bei den Betroffenen - vor allem in der ersten und zweiten Generation - die Erinnerungen an die ersten Schuljahre stark prägte. Denn die Schwierigkeiten, auf die Linkshänder beim Schreibenlernen stießen, verleideten so manchem Schüler den Schulbesuch.

Beleg Frau K.(1958), ehem. Fremdsprachenkorrespondentin: " Das hatten sie mir schon vor der Einschulung gesagt, daß ich mit der linken Hand schreiben müßte. Und die Lehrerin wollte das dann auch so. Es war schon blöd."

Kinder mit einer angeborenen Linkshändigkeit wurden bis zu Beginn der 70er Jahre auf rechtshändiges Schreiben und Werken "umtrainiert". Dies was für sie mit einer wochenlangen Qual im Schreibunterricht verbunden, denn das Umgewöhnen ging nur sehr langsam voran. Die von mir befragten Linkshänder berichteten im Zusammenhang mit dieser "Umerziehung" von Lernproblemen und von einer dadurch ausgelösten starken Verunsicherung in ihrem Leistungsprofil, die sich so auch auf das Lesenlernen auswirkte.

Beleg Frau K.(1936), Schmuckverkäuferin: "Während des Unterrichtes hatte ich Schwierigkeiten, weil ich geborene Linkshänderin bin. Dadurch habe ich Lesen und Schreiben eher auf Umwegen gelernt, denn ich sollte ja den Lehrern nach mit rechts schreiben. Durch Vorzeigen der Hände und dann gab es was mit dem Rohrstock drüber, wenn man mit links was gemacht hatte - also ich habe kämpfen müssen - aber das sind ja jetzt nur so äußere Einflüsse. Ich habe, wie gesagt, erst Schreiben gelernt und dann Lesen."

Auch Herrn F. und Herrn K. belastete die eigene Linkshändigkeit in der Schule. Beide stammen zudem aus anregungsarmen Elternhäusern und fühlten sich in der Schule deshalb ohnehin benachteiligt, so daß die ersten Schuljahre für Kinder wie sie eine große Bürde darstellten.

Beleg Herr F.(1947), Tontechniker: "Ja, das Lesen zum normalen Gebrauch, ja, das habe ich in der Schule gelernt. Es war allerdings mit Problemen verbunden, weil ich Linkshänder bin. Und damals wurde ja noch versucht einen umzufunktionieren. Da gab es immer Probleme beim Schreiben. Und ich denke, daß es da auch Probleme mit dem Lesen gab. Vielleicht kommen auch von daher meine Hemmungen. (...) Wegen der Linkshändigkeit wurde ich auch nicht gehänselt, aber es war schwierig, das mit rechts zu lernen."

Beleg Herr K.(1950), Büromaschinenmechaniker: "Also Lesen, den Deutschunterricht im Allgemeinen, den empfinde ich im Nachhinein als ziemlich schlimm, weil ich Linkshänder bin und immer mit Rechts schreiben mußte. Und wenn man das muß, dann konzentriert man sich immer auf das Schreiben und kriegt gar nicht mit, wie die Rechtschreibung richtig ist und wie man das nun lesen muß. Deshalb, Rechtschreibung ist immer ein sehr dunkles Kapitel gewesen. Das war in der Grundschulzeit schlimm".

Für alle drei Generationen gilt, daß die Erinnerungen an das Erlernen des Lesens und die allgemeine Stimmung in den ersten vier Schuljahren zunächst nur zögernd in Gang kamen. Häufig wurden noch im Laufe des Gesprächs Details aus der Grundschulzeit - speziell zum Lesenlernen - nachgetragen. Auch aus knappen Erinnerungen wurde deutlich, daß als Leitlinien des Erzählens über die Grundschulzeit das Lesenlernen, die Beurteilung der Lehrkräfte und Schwierigkeiten oder Probleme fungieren. Dieser Komplex der Lesesozialisation prägte aber im Hinblick auf das spätere Leseverhalten noch keine endgültigen Verhaltensweisen, sondern vermittelte und festigte zunächst die Lesefertigkeit. Anregungen zu weiterführendem Lesen oder der Beschäftigung mit Texten über den Unterricht hinaus wurden nur von Angehörigen der dritten Generation erwähnt. Die Lust und Neigung der Schüler, in der Freizeit zu lesen, wurde oft allein dadurch beeinflußt, wie schwer oder leicht ihnen das Lesenlernen fiel. Die Anregungen zum weiterführenden Lesen erhielten fast alle Schüler aus der außerschulischen Umwelt.

Über das Erlernen der reinen Technik des sinnerfassenden Lesens hinaus, hinterließ die institutionalisierte schulische Lesesozialisation der Grundschule somit, trotz der führenden Position, die ihr bis heute zugesprochen wird (z.B. das Monopol des Leseunterrichtes) bei der Mehrzahl meiner Informanten aller drei Lesergenerationen keine bemerkenswerten tiefergehenden Spuren - weder positiver noch negativer Art.[60] ) Während des auf ihre Schulzeit bezogenen Erinnerungsprozesses fiel bei den Interviewten zunächst auf, daß sie sich meist nur sehr rudimentär an die Unterrichtsinhalte und -mittel erinnerten. Die Erinnerungen an die Schulzeit verweisen aber bei aller Knappheit dennoch auf die Individualität schulischer Karrieren mit ihren Brüchen, Lern- und anderen Problemen sowie Ungereimtheiten speziell im Lese- und Schreibunterricht. In der Rückschau kam es zur Formulierung wieder erwachter Antipathie gegen einzelne Bezugspersonen im sozialen System Schule, wie strenge, unnahbare Lehrer, oder gegen Elternteile, die den Besuch der höheren Schule nicht unterstützten. Erfolge, Versagen, positive und negative Schulkarrieren wurden beleuchtet, ebenso wie sich einige Befragte auf ihre guten Leistungen in der Schule besannen. Auch Interaktionen unter den Klassenkameraden, wie der Austausch von Büchern und das spätere gemeinsame Lesen der Zeitschrift "Bravo" waren Themen der Erinnerungen.

Die Betrachtung der Erinnerungen zur Grundschulzeit sind nur ein Teil der Darstellung der Lesesozialisations-Einflüsse durch die Schule. Im nächsten Abschnitt geht es um die Lesesozialisation in den Klassen 5 und 6 (heute Beobachtungsstufe), der Mittelstufe (Klassen 7-9/10) sowie der Oberstufe (Klassen 11-13). In diesen Schuljahren wird im Anschluß an Unterrichtseinheiten zur deutschen Grammatik, das sinnerschließende und interpretierende Lesen anhand unterschiedlichster Texte trainiert.

2.3 Lesesozialisation in den weiterführenden Schulen

Alle von mir befragten Informanten besuchten im Anschluß an die vierte Klasse der Volks- bzw. Grundschule eine weiterführende Schule. Eine Beobachtungs- oder Orientierungsstufe, die heutzutage die Klassen fünf und sechs umfaßt und an allen Regelschultypen angeboten wird, gab es erst in der Schulzeit der jüngeren Befragten der zweiten (ab Übertrittsjahrgang 1968) und der dritten Generation. Der Deutschunterricht ist zunächst der Vermittlungsrahmen der schulischen Lesesozialisation ab Klasse fünf, in dem über die Lese-Grundkenntnisse hinaus ein Umgang mit verschiedenen literarischen Formen vermittelt werden soll. Die Realität des Unterrichtes stellte sich für die Betroffenen nach wie vor weitgehend so dar, daß in der Unterrichtsplanung eher selten Themen berücksichtigt wurden, die sowohl die Interessen als auch das Leseverhalten der Schüler unterstützten. Heutige Schüler erfahren in der Regel eine gänzlich andere Mediensozialisation als der Großteil der sie unterrichtenden Pädagogen in ihrer Kindheit. Nach wie vor verfügen längst nicht alle Lehrer über die gleichen Erfahrungen mit audiovisuellen Medien wie ihre, die neue Technik längst habitualisiert nutzenden Schüler.[61] ) Das Lesen in der Schule verläuft nahezu traditionell immer wieder konträr zum privaten Lesen, zur Intention des freiwilligen Lesens.

Vor allem für die Hauptschüler bot und bietet der Deutschunterricht während der Klassenstufen fünf bis neun relativ wenig Raum für die Vermittlung von Literaturkenntnissen, denn innerhalb dieser Jahre sollen sowohl die Grundlagen der Grammatik und das Sprachgefühl gefördert, als auch für die jüngeren unter den Befragten die Rezeption verschiedener Textarten praxisorientiert unterrichtet werden. Die Richtlinien für die Realschulen sehen bereits eine erweiterte Vermittlung der Inhalte des Faches Deutsch vor, aber das intensivste Angebot für Schüler, sich mit Grammatik, Sprache und literarischen Texten auseinanderzusetzen, findet sich nach wie vor in der Gymnasialschulzeit. Der dortige Deutschunterricht gliedert sich in vier Lernbereiche: Literatur und Sachtexte, Schreiben, Sprechen sowie Sprache und Sprachverwendung.[62] ) Entsprechend ist der Unterricht in der "Beobachtungstufe" der Klassen fünf bis sechs darauf ausgerichtet, die Schüler mit den Arbeits- und Vermittlungsweisen der weiterführenden Schulen vertraut werden zu lassen und, besonders in Jahrgangsstufe fünf, im Anschluß an die Grundschule ein einheitliches Wissens- und Lernniveau innerhalb der Klassenverbände zu erreichen.[63] ) Der mündliche und schriftliche Sprachgebrauch der Schüler soll über Lektüreerfahrungen erweitert und differenziert werden.[64] )

Zur Vertiefung des Deutschunterrichtes wird heute für die Klassen fünf bis zehn empfohlen, eine intensive Nutzung von Schüler- und eventuell Klassenbüchereien sowie der Öffentlichen Bibliotheken zu fördern und die Möglichkeit einer aktiven Literaturvermittlung, wie z.B. Autorenlesungen an Schulen wahrzunehmen.[65] )

Lesen im Lebenslauf von Schülern findet nicht isoliert statt, es ist vielmehr nur ein Teil ihrer Mediennutzung. Die höhere Schule scheint am häufigsten die Möglichkeit zu einer intensiven sekundären Lesesozialisation zu eröffnen. Allerdings haben es auch hier diejenigen Schüler schwer, die keinerlei familiäre Anregungen erhalten, denn der "Einfluß der höheren Schule allein reicht nicht aus, um aus Schülern, die nicht bereits Leser sind, motivierte Leser zu machen."[66] )

Meine Informanten besuchten unter durchaus unterschiedlich geprägten pädagogischen Einflüssen die Schule. Dies spiegelt sich in den Aussagen wider, auch wenn die Grundkonstellation in der Vermittlung vom Lehrer zum Schüler sich gleicht.

Die seit 1933 durch das nationalsozialistische Gedankengut geprägte Pädagogik wurde - nach unregelmäßigem Unterricht in den letzten Kriegsjahren - 1945 offiziell abrupt beendet. In den ersten Nachkriegsjahren wurde allerdings auf eine zunächst noch hierarchisch geordnete und rigide geführte Pädagogik - nicht selten auch unter Verwendung der Vorkriegsschulbücher - zurückgegriffen. Erst nachdem sich die Verhältnisse in der noch jungen Bundesrepublik konsolidiert hatten, begann Anfang der 60er Jahre die Diskussion um die pädagogischen Inhalte und Anforderungen in allen Schultypen. Die Didaktik des Deutschunterrichts durchlief seit der Gründung der Bundesrepublik mehrere Phasen:

- die "erlebnispädagogisch" orientierte Literaturdidaktik bis 1960

- die "strukturalistische" Literaturdidaktik bis 1965

- die literaturdidaktische Konzeption der "Leseerzieher" bis zum Ende der sechziger Jahre.

- die "kritische", gesellschaftspolitisch orientierte Literaturdidaktik seit ca. 1970.[67] ) Die Didaktik der 80er und 90er Jahre läßt sich am treffendsten als erfahrungs- und situationsgeprägt bezeichnen.[68] )

Da die ersten Leseerfahrungen oft prägend sind, zeigt auch schulische Leseförderung am ehesten Wirkung, wenn diejenigen erreicht und sensibilsiert werden, die den Kindern den Umgang mit Büchern und anderen Medien vermitteln. Die jüngere Leseforschung kam allerdings in den letzten Jahren wiederholt zu dem Schluß, daß man nach wie vor von einer relativen Unwirksamkeit der schulischen Lesesozialisation gegenüber dem Familieneinfluß ausgehen muß.[69] ) Die schulischen Anregungen beziehen sich eher auf die Qualität der Lesestoffe als auf die grundsätzliche Einstellung zum Lesen und die entsprechenden Habitualisierungen.

Als das klassische Hauptmedium dient das Buch den Schülern vom ersten Schultag an und für die Dauer der gesamten Schulzeit der Vermittlung von Wissen. So erscheint es opportun, daß ihnen nicht nur das Lesen als kognitive Fähigkeit vermittelt wird, sondern sie auch lernen, ein Buch adäquat für Lernzwecke einzusetzen und über den Unterricht hinaus zu nutzen. Dies kann allerdings heutzutage nicht losgelöst vom sonstigen Mediennutzungsverhalten dieser Schüler geschehen, da ihnen sehr umfangreiche Informationsquellen zur Verfügung stehen. Für diese jüngeren Generationen wird immer häufiger die Bezeichnung "Medienkinder"[70] ) verwendet, als Synonym für die Einbindung in die modernen Medienentwicklungungen. Auf diesen neuen Schüler-Typ muß die schulische Lese- und Mediensozialisation ausgerichtet werden, um motivationsfördernd wirken zu können. Die Darstellung der Arbeitsfelder lesesozialisierender Instanzen zeigte, daß hier mehrere Wirkungskreise ineinandergreifen.

Das Zusammenspiel der lesefördernden Impulse von Elternhaus und Grundschule konditioniert das Leseverhalten,[71] ) auf dem der weiterführende Unterricht aufbauen muß. Die Intensität und zum Teil auch die Effektivität dieser sekundären schulischen Lesesozialisation meiner Informanten werden im folgenden anhand der Analyse der Interviewbelege deutlich.

Erinnerungen der Befragten an die weiterführende Schulzeit

Die Erinnerungen der Befragten an die weiterführende Schulzeit, bezogen sich zunächst auf die seit einigen Schülergenerationen (je nach Schulart in unterschiedlicher Intensität) in den Klassen fünf bis sieben im Mittelpunkt des Unterrichtes stehende Grammatik und Orthographie. Aufgelockert wurde diese durch vereinzelte kleine Lektüren wie "Pole Poppenspäler" oder den "Schimmelreiter". Ab der achten Klasse wurden gemeinsam auch längere Bücher und Theaterstücke gelesen. Die Kommentare meiner Informanten zu den Unterrichtsinhalten zeigen generationsübergreifend, daß die dort gelesenen Texte in der Mehrheit als leidiger Pflichtstoff empfunden wurden. Diese Einstellung erfuhr häufig erst mit dem Übergang in die Oberstufe eine Veränderung, da dann im Unterricht besprochene und interpretierte Texte häufiger als Anregung für eine weiterführende private Lektüre dienten.

Gleichzeitig räumten viele Befragte ein, daß sich der Anspruch an die Qualität ihres Lesestoffes durch die angeleitete literarische Lektüre veränderte, indem sie anschließend bewußter und intensiver lasen. Die Schulung des Empfindens für, und des Umgangs mit literarischer Sprache erfolgte zur Schulzeit der ersten Generation noch häufig über das Auswendiglernen zahlreicher Gedichte, die man mitunter regelrecht deklamierte:

Beleg Herr M.(1929), Grafiker: "Und dann kam die höhere Schule. Da gab's natürlich Schullektüre, Bände mit allen möglichen ausgewählten Texten. Wir haben ja noch viel Gedichte gelernt. Ich bedaure das auch wie die Frau Laurien, daß das Auswendiglernen so aus der Mode gekommen ist. Wir haben noch viele Gedichte gelernt und man lernt die ja auch nur wenn man sich damit beschäftigt. Und man hört sie ja heute auch fast nur noch als Fragmente. Wir hatten unseren Deutschlehrer, unseren Klassenlehrer. Der lernte dann mit uns Sachen auswendig, wie der 'Zauberlehrling'. Und dann ging er mit uns in die Aue und da traten wir dann auf mit verteilten Rollen und sprachen den Text. Das hat richtig Spaß gemacht. Schullektüre das waren dann solche Geschichten wie 'Romeo und Julia auf dem Dorf'. Und dann habe ich auch angefangen, viel zu lesen."

Speziell der Lyrik wurde im Unterricht der ersten Generation im Verhältnis zu den beiden anderen ein breiter Anteil eingeräumt. So erwähnten aus der zweiten Generation nur noch wenige das Auswendiglernen von Gedichten, und für die Angehörigen der dritten Generation bestand der Deutschunterricht fast ausschließlich aus Grammatik und Lektüretexten. Bedenkt man, daß zwar mehrere Befragte der Jahrgänge 1930 bis 1948 das Gymnasium besucht hatten, für andere jedoch die Schulzeit bereits nach neun oder zehn Schuljahren endete[72] ), wird deutlich, daß das Fach Deutsch die Lesesozialisation einiger Informanten nicht nachhaltig prägen konnte.

In den ersten Nachkriegsjahren unterrichteten recht häufig Pensionäre als Aushilfslehrer, was aber in den Gesprächen tendenziell selten kritisch angemerkt wurde, ebensowenig wie keine explizite Kritik an den Schulbüchern stattfand. Die Ursache hierfür lag sicher zum einen an der fehlenden Vergleichsmöglichkeit und zum anderen daran, daß Lehrer schon aufgrund ihres Status einer Autoritätsperson als "alt" eingestuft und ihre "Unterrichtsqualitäten" erst wieder von älteren Schülern honoriert wurden. So gehören positive Aussagen über den Deutschunterricht der Realschule zu den Ausnahmen. Im folgenden Beleg wird deutlich, wieviel auch in dieser Schulform für den Inhalt und das Gelingen der schulischen Vermittlung von der Person des Lehrers abhing.

Beleg Herr B.(1950), Bankkaufmann/Gewerbelehrer: "Und später in der Realschule, da sollte man sich dann Literatur aussuchen, und unser Deutschlehrer, der hat uns dann Vorschläge gemacht, und da habe ich halt von Thomas Mann "Mario und der Zauberer" gelesen. Das hat mir sehr gut gefallen. Ich habe das dann vorgestellt und etwas dazu ausgeführt, der Zauberer als Verkörperung von Hitler. So eine Art Ankündigung des Kommens des Dritten Reiches."

Weiterführende Impulse durch den Deutschunterricht erhielten haupt-sächlich Schüler, die über die zehnte Klasse hinaus, also in der gymnasialen Oberstufe, die Schule besuchten. Sie wurden mit Einführungen in die Literaturgeschichte sowie Analysen und Interpretationen von literarischen Texten konfrontiert. Diese Inhalte finden sich - trotz mittlerweile mehrfach überarbeiteter Curricula - in den Aussagen aller drei Lesergenerationen. Eine tiefergehende Beschäftigung mit anspruchsvoller Literatur spiegelt sich entsprechend in den Aussagen der Oberstufenschüler der ersten und zweiten Generation wider.

Beleg Frau L.(1930), Schneiderin/Hausfrau: "Dann bin ich 1942 aufs Gymnasium gekommen. Im Gymnasium haben wir Lesebücher für Deutsch gehabt. Mit ausgewählten Lektüren aus der deutschen Literatur. Und wir haben unglaublich viele Gedichte gelernt. Die behält man doch ewig, und ich finde, irgendwo ist es schön, wenn man diese Texte so beherrscht. Man bekommt auch eine andere Beziehung zu den Dichtern, wie Goethe, Schiller, Uhland, Conrad Ferdinand Meyer, diese Balladen, Liliencrohn. Man lernt doch einige deutsche Dichter auf diese Weise recht gut kennen und kann den Stil auch einordnen." Also da hat die Schule für Dich tatsächlich eine Art Basis der Literaturkenntnisse geschaffen? "Ja, unbedingt. Wir haben auch im Englischunterricht viel englische Gedichte gelernt, und die finde ich auch heute noch gut, wenn ich mir die so ins Gedächtnis rufe. Ich habe sogar meine englische Freundin Jenny unheimlich damit verblüfft, mit dem Aufsagen dieser Gedichte, und von ihr ein großes Lob bekommen."

Ähnlich positive Erinnerungen einer intensiven Vermittlung von Literatur durch die Schule schilderte auch Frau G.:

Beleg Frau G.(1948), Grundschulehrerin: Sie haben dann aber Abitur gemacht, besitzen Sie an den dortigen Oberstufenunterricht intensive Erinnerungen? "Ja, an den Unterricht kann ich mich recht gut erinnern, da haben wir uns relativ viel mit Literatur beschäftigt. Wir hatten so ein richtiges germanistisches Ass im Deutschunterricht als Lehrer. Wir sind die Gattungen alle durchgegangen. Wir haben uns sehr intensiv mit Kleist befaßt. Wir haben sehr viele Theaterstücke gelesen und Klassik, wie Goethe und Schiller. Bis auf ein wenig Brecht haben wir wenig Modernes gelesen. Ich habe dann 1966 Abitur gemacht. Ich habe eine Klasse übersprungen und bin dann nur zwölf Jahre zur Schule gegangen. Wir haben dann auch Texte von der Jahrhundertwende gelesen. Würden Sie sagen, daß diese Anregungen aus der Oberstufe sie motivierten sich weiterhin mit Literatur zu beschäftigen? "Ja, ich denke schon, weil diese ganze Literaturgeschichte einem auch so Koordinaten gegeben hat, wodurch ich einen Bezugspunkt für ein Leseinteresse hatte. Ich hatte dann immer die Möglichkeit, was ich las, einzuordnen und es nicht völlig losgelöst vom Zeitkontext zu sehen. Manchmal habe ich Sachen auch nur angelesen und dann auch wieder weggelegt. Auf alle Fälle hat mir der Unterricht für die Einschätzung von Literatur viel gebracht."

Derartige Schulerfahrungen sind offensichtlich nur möglich, wenn es der Lehrkraft gelingt Interesse und Aufmerksamkeit der Schüler zu wecken. Dagegen wird in den folgenden Interviewauszügen deutlich, daß Schüler ohne ein positives Verhältnis zur Lehrkraft nur schwer ein weitergehendes Interesse für die Inhalte des Unterrichtes entwickeln. Sie lehnen schulische Anregungen in bezug auf Lesestoffe und Lektüren häufig einfach auch deshalb ab, weil es sich eben um "Schulstoffe" handelte - ein Phänomen, das auch unter den Befragten aller drei Generationen zu finden war. Auch Frau L. lernte in den höheren Klassen des Gymnasiums erstmals deutsche Literatur kennen.

Beleg Frau L.(1950), Gymnasiallehrerin/Yogalehrerin: "Als ich dann älter wurde, so in der Oberstufe, da wurde man ja schon über die Schule mit Literatur konfrontiert. Das hat mich allerdings weniger interessiert. Sei es, daß sie die Literatur so vermittelten, daß es einem nicht nahegebracht wurde oder warum auch immer. Die Thematiken von Goethe und Schiller, die sind mir in der Schule nie nahe gegangen. Das war nicht mein Thema und es hat mich auch nicht interessiert. Ich weiß nur noch, daß wir einiges phasenweise auswendig gelernt habe. Das habe ich allerdings wieder alles vergessen, im Gegensatz zu meinem Mann, der kann immer noch den "Taucher" oder "Der Ring des Polykrates" komplett aufsagen. (...) Angefangen zu interessieren hat es mich erst wieder über eine Lehrerin in der Schule, und da komischerweise Thomas Mann. Den habe ich da sehr geliebt und sehr verehrt, und Thomas Mann war für mich der deutsche Schriftsteller überhaupt, der Sprache in einer Form handhaben konnte, wie ich das vorher nie erfahren habe. Ich merkte auch, das ich viel von ihm lernte, was mein eigenes Sprachverhalten betrifft."

Gerade unter den Befragten der zweiten und dritten Generation gab es mehrere, die bis etwa zum zehnten Schuljahr fast gar nicht oder nur höchst ungern lasen. Erst durch die Persönlichkeit und Kompetenz einer bestimmten Lehrkraft erhielten sie in den oberen Klassen Impulse zum engagierten Lesen von literarischen Texten. Wie im Falle von Frau Sch., trat dieser Effekt nicht selten erst nach einem Schul- oder Lehrerwechsel auf.

Beleg Frau Sch.(1958), beurlaubte Kriminalbeamtin: Also dann können Sie auch nicht sagen, daß die Schule Ihnen Anregungen für Ihre private Lektüre gegeben hat? "Also das war nicht so kreativ, was wir da gemacht haben. Ich habe dann in der zehnten Klasse das Gymnasium gewechselt und ab da habe ich dann auch wieder bessere Erinnerungen. Da war der Unterricht freier und lockerer, aber auch interessanter und insgesamt aufgeschlossener. Wo ich zuerst war, da war es konservativ und mit Gedichten zum Auswendiglernen und dann natürlich auch abfragen. Mit dem Schulwechsel kam eigentlich die große Wende, da hat mir der Deutschunterricht wieder Spaß gemacht, und ich hatte es auch als mündliches Prüfungsfach im Abitur. Ich habe gesprochen über Henrik Ibsen... ach wie heißt sie jetzt noch? Nora? Ach ja richtig, Nora. Und im Zusammenhang damit habe ich über die Rolle der Frau im 20. Jahrhundert allgemein gesprochen, und da hatte ich ganz viel Literatur zum Thema und ich fand es sehr interessant."

Es fällt auf, daß die positiven Erinnerungen an Texte im Deutschunterricht sich vor allem auf die Schulzeit der Klassen elf bis dreizehn beziehen. Offenbar wirkt sich nicht allein die Lehrerpersönlichkeit, sondern auch das Alter der Schüler entscheidend auf die Bereitschaft und Fähigkeit aus, Anregungen aus dem Unterricht anzunehmen und umzusetzen. Schüler, die bereits vorher interessierte Leser waren, neigten allerdings dazu, den all zu sehr auf Interpretation ausgerichteten Unterricht abzulehnen, weil sie ihnen "ans Herz gewachsene" Literatur nicht gerne bis ins Detail analysieren wollen, um sich den "Zauber" der Texte zu erhalten.[73] ) Dieser, in den beiden folgenden Zitaten geäußerte, Unmut von bereits passioniert lesenden Schülern gegenüber dem methodischen Vorgehen im Deutschunterricht ist ein generationsüber-greifendes Phänomen. Andererseits erhielten viele erst durch den Literaturunterricht der höheren Klassen die Anregung, sich von den Lesevorlieben ihrer Jugend zu lösen und anspruchsvolle Texte zu lesen.

Beleg Frau B.(1968), Redakteurin im Erziehungsurlaub: "Ja, also gelesen habe ich immer viel. Auch in der fünften, sechsten, siebten Klasse. Bei mir hat es erst einen Einbruch gegeben so in der Mittelstufe, als es dann so an das Auseinanderpflücken von Büchern ging. Also Bücher, die ich erst mit Genuß gelesen hatte, und die ich dann auch durchaus gut fand. Die wurden dann regelrecht kleingehackt und auseinandergenommen und auch von Mitschülern da Sachen reininterpretiert, die mir überhaupt nicht so vorkamen. Oder von den Lehrern aufdiktierte Interpretationen, die einem selber gar nicht so vorkamen. Ich weiß, daß ich da eine Zeit lang keinen Bock mehr hatte, zu lesen. Es hat dann eben auch keinen Spaß mehr gemacht.(...) Der Spaß kam dann allerdings auch wieder, erweckt durch einen Lehrer, Herrn S. Der hatte eine ganz tolle Art, einen da heran zuführen, fast wie so eine Gesprächstherapie. Und der hat uns halt durch Fragen darauf gebracht, was das bedeuten könnte, ohne einem feste Interpretationen aufzuzwingen. (...) Herrn S., den hatte ich in der 9., 10., 11. und auch im Leistungskurs. Es hat im Gespräch mit ihm auch einfach Spaß gemacht, die eigenen Argumente und Interpretationen zu verteidigen. Das war schon ganz Klasse. Ich war ja in den meisten Fächern nicht gut, aber in Deutsch eigentlich immer."

Sträubte sich Frau B., wie sie im obigen Beleg ausführt, zunächst gegen die Unterrichtsinhalte, so gelang ihr beim Lehrerwechsel, sich gegenüber neuen Anregungen zu öffnen. Sie wurde in der Schule auf ihren späteren Lieblingsautor Hermann Hesse aufmerksam gemacht, dessen Texte sie dann im Deutschunterricht nicht mehr intepretieren mochte. Ganz ähnliche Erfahrungen mit dem interpretierenden Lesen beschreibt Frau R. auch über ihre Schulzeit hinaus. Sie beklagt, daß sie während des Studiums kaum ein Buch mehr um des Textes willen lesen konnte, sondern stets interpretierend und analysierend, so daß in dieser Zeit das rein private Lesen dadurch stark getrübt wurde und weitgehend brach lag.

Beleg Frau R.(1953), beurl. Grundschullehrerin: "Ich habe bis zur elften Klasse viel gelesen. Für mich war Literatur immer eher etwas was ich nicht sezieren möchte, sondern etwas, das auf einen auch so eine bestimmte Wirkung hat, und man hat dann auch Spaß an der Sprache und einfach am Aufbau, am Inhalt. Einfach, daß man durch Literatur auch angeregt wird, sich in bestimmte Stimmungen zu versetzen." Und nach der Schule? hast du während des Studiums auch noch für dich gelesen? "Ja, aber es war merkwürdigerweise etwas eingeschränkt. Weil ich gar nicht mehr so unbefangen lesen konnte. Wenn man immer so sezierend lesen muß, mit dem Hintergedanken, daß man dann nachher vielleicht ein Referat darüber schreiben muß, dann schränkt das so etwas ein. Ich habe eigentlich erst nach dem Studium wieder so richtig losgelesen. Und da habe ich sehr viel gelesen bis die Kinder kamen."

Frau F. z.B. erhielt zu Beginn der elften Klasse von ihrer Deutsch-Lehrerin eine Leseliste mit etwa 25 Titeln klassischer Autoren. Ihre Mutter kaufte ihr die Bände, soweit sie nicht bereits im häuslichen Bestand existierten, und Frau F. las sie sämtlichst, besitzt sie noch heute und sieht sie als Basis ihrer privaten Bibliothek an.

Beleg Frau F.(1949), Verwaltungsangestellte: "Da kann ich mich erst wieder an den Unterricht in den höheren Klassen erinnern. Wir haben mit ungefähr 16 Jahren eine Literaturliste, mit klassischer Weltliteratur als Empfehlung zum Lesen bekommen. Das fand ich damals recht gut, und meine Mutter, da sie etwas bildungsbeflissen war, hat mir die zum großen Teil alle gekauft, und ich habe sie auch mit Interesse alle gelesen. Aber an die Zeit zwischen 4. Klasse und 11., daran kann ich mich nicht erinnern. Ich bin aber auch nicht besonders gerne zur Schule gegangen. Erst ab der Oberstufe hat mir das in Deutsch auch gefallen. Ich habe mit 18 Abitur gemacht." Dann hatte das Lesen ab der Oberstufe für Dich auch eine größere Bedeutung? "Ja, das hatte eine sehr große Bedeutung für mich, denn alle Bücher, die meine Mutter nach der Literaturliste gekauft hatte, fand ich auch ausgesprochen spannend. Und ich habe gerne in meiner Freizeit gelesen. Die Liste war ja nur eine Empfehlung. Aber meine Mutter fand, es sei sinnvoll, die auch alle zu lesen, und das habe ich auch freiwillig gemacht."

In der zweiten Generation vertraten mehrere Informanten die Auffassung, zumindest für einige Jahre einen guten und anregenden Deutschunterricht erhalten zu haben, aus dem sich vielfältige Anregungen für die private Lektüre ergaben. Sie wußten derart interessante Einblicke in verschiedene Literaturgattungen zu schätzen und sahen sie auch als Hilfe an, um sich literaturgeschichtlich zu orientieren, und Texte für sich selbst auszuwählen.

Beleg Frau E.(1954), Sozialpädagogin: "Der spätere Deutschunterricht - da weiß ich schon, daß der Unterricht in der Realschule und in der Fachoberschule mir Spaß gemacht hat, in dem Moment, wo es von der Grammatik wegging. Und als es richtig zum Lesen und zur Literatur ging, ab da hat mir Deutsch Spaß gemacht. Das lag aber auch oft an den Lehrern. Allerdings hatte ich mit Schreiben und Grammatik nie ein Problem. Es war zwar nichts, was mir besonders Spaß gemacht hätte, aber ich hatte damit eben auch kein Problem. Wir hatten dann auch ziemlich konstant engagierte Lehrer, die auch versucht haben, zusätzliche Inhalte rüber zu bringen. Die auch versucht haben, für die damalige Zeit neue Literatur zu lesen. Wir haben damals auch ziemlich viele Kurzgeschichten gelesen. Ich kann mich nicht mehr an die Autoren erinnern, aber ich weiß, daß es auch für mich ziemlich beeindruckende Sachen waren." Kannst du dich an Titel der umfassenderen Lektüre erinnern? Romane und Theaterstücke? "Nee, Theaterstücke eigentlich überhaupt nicht. Wir hatten eine alte Lehrerin, die war schon über das Pensionsalter hinaus, die hat mit uns Max Frisch und Dürrenmatt gelesen. Und Werner Bergengruen." An welcher Schule war das? "Das war schon Fachoberschule. Diese Lehrerin hat auch mit uns Lyrik gelesen, wie Ricarda Huch, eben Sachen, die nicht so leicht eingänglich sind. Sie hat auch versucht, mit uns Texte zu lesen, die sozialkritischen oder politischen Inhalt hatten. Auch Texte über gesellschaftskritische Fragen. Wir haben z.B. sehr lange über den "Oppenheimer" diskutiert. Also ich kann schon sagen, daß die Schule mir - unabhängig von meinem privaten Lesen - durch diese eine Lehrerin sehr viele Anregungen gegeben hat."

Besonders Informanten, die zu den späten oder unerwarteten Lesern gehören und entsprechend in ihrer Freizeit vorher eher wenig gelesen hatten, fanden in einigen Fällen zum Teil in der Oberstufe einen Zugang zum Lesen über die dort behandelten literarischen Texte. Sie sahen diese Anregungen dann ebenfalls als Basis für ihre eigene spätere Wertschätzung des Lesens an (Vgl. auch Kapitel VI).

Beleg Frau B.(1953), Gymnasiallehrerin: "Also Anregungen für das Lesen in der Freizeit habe ich erst in der Oberstufe gekriegt. Das war dann ja so, daß er uns auch Empfehlungen für die Ferien gab. Und die Bücher habe ich mir dann auch besorgt und gelesen. Das war in der 11. und 12. Klasse. (...) In der Oberstufe fing es überhaupt, an sich zu ändern. Wahrscheinlich wurden die Bücher dann auch bewußter ausgesucht oder mehr nach den Interessen, das kann ich nicht mehr genau sagen, aber auch im Studium war es nachher ganz anders. Und auch heute ist es ganz anders. Aber daß ich ungerne las und kaum Interesse an Büchern hatte, das hielt sich auf alle Fälle bis hin zur Oberstufe. In der Oberstufe habe ich dann mit Büchern gearbeitet und das Lesen, das hat sich dann richtig geändert während des Studiums."

Das nächste Zitat eines Befragten der zweiten Generation verweist deutlich auf den Umbruch in der Auswahl der Lesetexte im gymnasialen Deutschunterricht Anfang der siebziger Jahre. Ab diesem Zeitpunkt steht die Lektüre von "Klassikern" nicht mehr allein im Mittelpunkt des Deutschunterrichtes. Das Sprachempfinden der Schüler sollte nun verstärkt an Texten unterschiedlicher Konvenienz geübt werden.

Beleg Herr K.(1956), Kaufmännischer Angestellter: "Später haben wir dann auch Schullektüre gelesen. Reclamhefte und die Deutschbücher mit Kurzgeschichten und Gedichten". Literatur wurde Euch anhand deutscher Klassiker vermittelt? "Ja, weitgehend. In der 8. Klasse allerdings hatten wir einen Lehrer, der kam vom NDR, und der hat mit uns auch mehr in eine praktische Richtung gearbeitet und mit uns auch Filmdrehbücher gelesen. So einfache Drehbücher über Filme mit Charlie Chaplin. Und der hat mit uns auch Zeitung gelesen. Dabei ging es weniger um Politik, als mehr um Literatur. Wir hatten von der 5. bis zur 7. Klasse einen Lehrer, der hat mit uns Gedichte gemacht z.B. Fontane "Die Brücke am Tay". Das haben wir dann als Melodram, mit Betonung und so weiter, auswendig gelernt. Das ist aber auch im Moment das einzige, was mir von damals noch einfällt. Dann hatten wir den Lehrer vom NDR und dann später noch einen, der hieß Peter P., der hat anspruchsvollere Texte, aber auch Lustiges mit uns durchgenommen. Und der hat auch mit uns diese Landserhefte besprochen. Die waren Thema im Unterricht, etwa 8. oder 9. Klasse. Da ging es dann ja auch um die Interpretation von Texten. Die haben wir aber anhand der deutschen Klassiker am wenigsten geübt. Wir haben noch mal was von Droste-Hülshoff gelesen. Dann aber auch wieder Max Frisch "Andorra". Das haben wir ein halbes Jahr sehr intensiv gemacht. Thomas Mann habe ich mal selber gelesen. Schiller und Goethe nicht. Und von Grass "Katz und Maus", und von Wolf-Dietrich Schnurre eines, von dem ich den Titel nicht mehr weiß, aber noch das Reclam Heft habe. Ich habe Deutsch eigentlich auch immer ganz gerne gemacht, und auch bis zum Abitur. Zwar keinen Leistungskurs, aber eben doch bis zum Abitur, ich war immer so im Dreier- oder auch später Zweier-Bereich."

Positiv hervorgehoben wurde von einigen Befragten auch die Analyse journalistischer Schreibformen anhand von Zeitungsartikeln und die kritische Auseinandersetzung mit anderen Texten als der klassischen "schönen" Literatur, wie Heft-Romanen, modernen Gedichtformen und Kurzgeschichten.

Aufgrund der natürlichen Skepsis der Schüler gegenüber fast allem, was von Lehrern vermittelt werden sollte, gab es natürlich nicht nur positive Stimmen zum Deutschunterricht.

Beleg Herr B. (1958), Diakon: "An den Deutschunterricht von der fünften bis zur siebten Klasse habe ich kaum eine Erinnerung. Ich habe das gerade Notwendige sehr lustlos gemacht. In den Klassen acht bis zehn wurden sehr viele Novellen, Dramen und Kurzgeschichten gelesen. Ein Lehrer ließ uns fast ein ganzes Schuljahr lang nur vorlesen. Pole 'Poppenspäler', 'Schimmelreiter', Dramen von Kleist usw. Nur zum Teil fand ich die Inhalte ganz interessant. Es wurde viel herumgealbert."

Manche Schüler überwanden solche Vorbehalte nach einiger Zeit und konnten so auch Anregungen für ihr eigenes Leseverständnis aus dem Unterricht mitnehmen. Bei den Zitaten zu diesem Themenkomplex läßt sich deutlich erkennen, wie individuell die Intensität der Beschäftigung mit Lektüre war. Besonders Schüler, die sich bereits während der Pubertät für die Auseinandersetzung mit Literatur begeistern konnten, bewahrten sich diese ausgeprägte Leseleidenschaft auch im weiteren Lebensverlauf.

Beleg Frau Sch.(1958), Apothekenhelferin: "Wir haben viele uninteressante Lektüren gelesen - Hermann Hesse war für mich das Schreck-lichste - aber auch viele Bücher, die manchmal von vorneherein spannend zu lesen waren, wie "Die schwarze Spinne" und solche, die zuerst langweilig erschienen, durch das "Besprechen" im Unterricht aber doch auch für mich so interessant wurden, daß sie in Erinnerung blieben. Dazu gehörten Böll: Ansichten eines Clowns, Lenz: Die Deutschstunde, Brecht, Fontane und auch die Klassiker wie Schiller und Goethe waren auf den zweiten Blick gar nicht so übel. Und Kafka war nach der Lektüre in der Schule lange Zeit mein Lieblingsautor." Wie haben Sie sich in der Schule mit diesen Büchern auseinandergesetzt? "Wir haben regelmäßig Schülerreferate gehalten mit 'Buchbesprechungen', das heißt jeder Schüler stellte von sich aus ein Buch seiner Wahl vor, zum Teil wiesen Lehrer auch direkt auf Lesestoff hin. Wahrgenommen oder zu schätzen gewußt, habe ich das aber erst später."

Der folgende Beleg verweist darauf, daß Literaturerfahrungen nicht nur im Deutschunterricht möglich waren, sondern auch im Rahmen von fächerübergreifendem Unterricht.

Beleg Frau G.(1958), Museumspädagogin: "Dann haben wir auch noch gelesen: Heinrich Mann: der Untertan. Das weiß ich noch ganz genau, weil wir da fächerübergreifenden Projektunterricht hatten: In Deutsch haben wir das Buch gelesen und in Geschichte hatten wir die Kaiserzeit. Das ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben, und eben auch als etwas Interessantes. Da habe ich viel gelernt. Also ich hatte ein Referat übernommen über Studentenschaften und Verbindungen und hatte bis ich das Referat hielt, angenommen, daß diese der Vergangenheit angehörten und war dann völlig erstaunt, als der Lehrer sagte, daß er Bart trage, weil er einen Schmiß am Kinn habe, und einer meiner Mitschüler wissen ließ, daß er schon ein Anwärter in so einer Verbindung wäre. Und das ist auch ein Erlebnis, das ich mit Lesen verbinde. Das ist etwas was ich mir über das Lesen erschlossen habe, und das wurde anders als die Informationen sonst im Geschichtsunterricht lebendig."

In einem Gespräch berichtete ein Angehöriger der dritten Generation von seiner besonderen Begeisterung für das Engagement einer Lehrerin. Er hatte an einem Deutsch-Leistungskurs teilgenommen, der nur aus fünf interessierten Schülern bestand und somit eher einem Literaturzirkel glich. Entsprechend intensiv verlief der Unterricht, der zum Teil in Form gemeinsamer lauter Lektüre sowie in Gesprächen auf privater Ebene sowie Theaterbesuchen fortgeführt wurde. Auch für ihn wirkte sich der Einfluß dieses Unterrichts gravierend auf sein späteres privates Lesen aus. Es sei zugleich darauf verwiesen, daß eine, wie im folgenden anklingende positive Stellungnahme zum Deutschunterricht unter den von mir Befragten zu den Ausnahmen gehört.

Beleg Herr L.(1965), Architekt: "Und dann haben wir zwei Jahre sehr intensiv gelesen, mit wohl zum Teil auch etwas überengagierten Projekten. So haben wir den 'Kaukasischen Kreidekreis' gelesen, und wir sind an der Interpretation komplett daran gescheitert. Und so etwas wie das Märchenlesen anhand von Watzlawicks Theorien. Es gab da eine Clique von etwa 5 Schülern, wo das dann auf fruchtbaren Boden fiel, und da hatte man dann auch selbständig Texte referiert und vorgestellt, und da fing das dann auch an, daß ich sagen würde, da kamen dann auch Anregungen aus dem Schulunterricht zum Weiterlesen. Also das klingt jetzt vielleicht alles sehr positiv, aber es ist auch so, in meinem Fall, ich bin in der Schule und mit meinen Lehrern ganz glücklich gewesen."

Die Unterschiede und Bedingungen der Lesesozialisation speziell der weiterführenden Schulen sind nur in begrenztem Umfang als generationsspezifisch zu definieren. Sie sind vor allem in den unterschiedlichen Schularten und der damit zusammenhängenden Dauer des Schulbesuchs begründet. Zum anderen zeichnete sich ein Wandel der dem Unterricht zugrunde gelegten Lesestoffe ab. Ganz deutlich ließ sich anhand der Interviews ein rapider Rückgang des Auswendiglernens von Balladen und Gedichten verzeichnen, sowie der Kenntnisse eines durch die Schule vermittelnden Literaturkanons. Die jüngeren Befragten kannten ältere, klassische Autoren nur noch in begrenztem Umfang und gaben auch recht häufig an, kein Interesse an der Lektüre derselben zu empfinden.

Bei den Schullektüren der ersten Generation und der älteren Befragten der zweiten Generation handelte es sich fast ausschließlich um deutschsprachige Klassiker, wie Storm, Hebbel, Hauptmann, Fontane, Schiller, Goethe, Lessing. Erst für die Jüngeren der zweiten und für die dritte Generation prägte nicht mehr die Interpretation älterer deutscher Literatur die Unterrichtsinhalte, sondern auch immer häufiger standen Bücher und Texte der modernen deutschen Klassiker wie Brecht, Andersch, Tucholsky, Benn, Borchert, Brecht, Grass, Frisch und Musil im Mittelpunkt des Deutschunterrichtes. Generationsübergreifend wurde fremdsprachige Literatur jeweils innerhalb des Sprachunterrichtes, also vorwiegend in Französisch und Englisch gelesen, so daß zahlreiche Schüler auch in diesen Fächern Leseanregungen erhielten. Auffällig ist, daß bis auf wenige Ausnahmen nur die "guten" Deutschlehrer den Befragten eine Erinnerung wert sind.

In den Aussagen der Befragten aller drei Lesergenerationen klang an, daß die Bemühungen einzelner Lehrkräfte, den Schülern ein Interesse für das Verständnis komplexer Texte oder bestimmter Literaturgattungen nahezubringen, vielfältig waren und idealerweise in Bezug zur Lebenswelt der Schüler standen oder ihnen über das Interesse am Umgang mit literarischer Sprache vermittelt wurden. Die geschilderten Schulerfahrungen lassen den Schluß zu, daß die Motivation der Schüler in der Mittelstufe (Klasse sieben bis zehn) und besonders auch in den oberen Klassen weniger über die behandelten und interpretierten Lesestoffe erfolgte, als über die Unterrichtsweise. Wie bereits erwähnt, äußerten sich bei weitem nicht alle Informanten begeistert über den Deutschunterricht, und einige der dritten Generation wählten, wenn möglich, Deutsch in der reformierten Oberstufe ab. Die Mehrzahl der heute regelmäßigen Leser unter diesen Befragten gab aber an, in den oberen Schulklassen Inspirationen zum Lesen erhalten zu haben, und sah in der Wahl von literarischen bzw. anspruchsvollen Lesestoffen für ihr privates Lesen durchaus eine Kontinuität in deren Umsetzung.

Die gesamte Schulzeit wurde - bis auf wenige Ausnahmen - von den Informanten als eine Spanne weitgehend freier Zeiteinteilung geschildert, in der sie ensprechend unbefangen ihren Leseneigungen nachgehen konnten. Auch wenn sie sich ihre Freizeit nicht völlig losgelöst von Verpflichtungen und Aufgaben gestalten konnten, so wurden dies aber nicht als beengend e oder gravierende Einschnitte empfunden. Das Gefühl einer Einschränkung, respektive Knappheit von Lesezeit und damit verbunden, das Formulieren bestimmter Qualitätsansprüche an eben diese, tauchen in den Erinnerungen erst im Zusammenhang mit äußeren Einflüssen, wie dem Beginn der Berufsausbildung auf. Schloß diese direkt an die Schule an, so ergab sich im berufsbezogenen Unterricht meistens eher wenig Gelegenheit Leseanregungen zu erhalten und Leseinteressen zu vertiefen, denn je nach Berufssparte ist der über die Orthographie und Grammatik hinausgehende Deutschunterricht eher marginal. Bereits in den 70er Jahren resümierte Klaus F. Geiger im Anschluß an seine Untersuchung des Leseverhaltens von Hauptschülern, daß es gerade galt "in den Haupt- und Berufsschulen Wege zu finden, um den Jugendlichen, die sich am frühesten in der Erwachsenenwelt behaupten müssen, den Zugang zu sozialen und politischen Informationen zu erleichtern". Heutzutage haben besonders in Haupt- und Berufsschulen medienpädagogische Lernelemente einen wichtigen Stellenwert. Dies vor allem auch deshalb, weil die audiovisuellen Medien in den Familien dieser Schüler oft lebhaft genutzt werden, aber "in der Regel keine Strukturen des sinnvollen Umgangs mit ihnen entwickelt wurden".[74] ) Wie auch die Belege verdeutlichen, wird habitualisiertes Lesen in einem sehr komplexen, von zahlreichen Faktoren bestimmten Prozeß vermittelt und ausgebildet. An diesem ist auch die Schule mit ihren unterschiedlichen Vermittlungsaspekten und - ansätzen gravierend beteiligt. Die Aussagen der Befragten bestätigten auf eindrucksvolle Weise, daß ein Deutsch- oder Literaturunterricht, der die Schüler motiviert, sich mit Texten und Literatur auseinanderzusetzen, lebenslang Wirkung zeigen kann und nicht selten dazu führt, daß Lesen im Lebenslauf fest verankert wird und einen wichtigen Stellenwert einnimmt. Zugleich wurde in diesem Kapitel deutlich, daß die Lesesozialisation im Elternhaus die Grundvoraussetzungen schafft, auf denen die Schule aufbaut. Im folgenden fünften Kapitel gehe ich der Frage nach, welches Lektüreangebot den Befragten der drei Lesergenerationen zur Verfügung stand und wie sie dieses nutzten.

 

Fußnoten:

[1])Vgl. Rolff, Hans-Günter; Zimmermann, Peter: Kindheit im Wandel. Eine Einführung in die Sozialisation im Kindesalter. Weinheim und Basel 1985. S.30 u. 59: Sozialisation zielt auf die "Vergesellschaftung" des Subjekts ab. Der Begriff der Sozialisation wurde bereits um die Jahrhundertwende von Emile Durkheim benutzt und vom Erziehungsbegriff klar abgegrenzt. Den hier folgenden Ausführungen liegt ein kritisches Verständnis von Sozialisation als der individuellen Aneignung von Kultur und Normen zugrunde. Dazu gehört die Aneignung der materiellen Kultur, der symbolischen Welt und die Verinnerlichung der Kontrollformen.

[2])Die folgenden Ausführungen zur primären und sekundären Sozialisation orientieren sich weitgehend am Verständnis von Berger, Peter; Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissensoziologie. Frankfurt/Main 1984. Hier: S.141/142.

[3])Die Internalisierung ist erstens das Fundament für das Verständnis der Mitmenschen, und zweitens notwendig für das Erfassen der Welt als eine sinnhafte und gesellschaftliche Wirklichkeit.

[4])Berger; Luckmann, wie Anm. 2, S.141.

[5])Ebda., S.142. Das "Selbst" spiegelt dann am Ende dieses Prozesses die Einstellungen wider, die die "Anderen" ihm gegenüber haben und hatten.

[6])Ebda., S.148.

[7])Für die von mir Befragten stellte der Kindergarten als Institution keine wichtige Institution in der Lesesozialisation dar, denn nur wenige besuchten eine solche Einrichtung. Aber es ist davon auszugehen, daß der Kindergarten für die Geburtsjahrgänge ab 1975 eine zunehmend wichtige Funktion und Aufgabe in der Lesesozialisation einnehmen wird.

[8])Vgl. Berger; Luckmann, Wie Anm. 2, S.148. "Subwelten" sind neue Lebensräume und Lebensumstände, in die das Individuum im Laufe der sekundären Sozialisation eingeführt wird. Hier wirken nicht mehr nur die Erzieher der primären Sozialisation, sondern zahlreiche Vermittler, so daß diese Subwelten neben der in der primären Sozialisation angeeigneten Grundwelt existieren.

[9])Ebda., S.150. Es handelt sich dabei um Spezialwissen, z.B. auf den Arbeitsplatz bezogen, dessen Erwerb der Aneignung bestimmten rollenspezifischen Wissens entspricht.

[10])Wobei dies nur für das gesellschaftliche Verständnis des Unterrichts und seiner Vetreter gilt. Für den Schüler persönlich ist es von gravierender Bedeutung für den Lernerfolg, ob er zur Lehrkraft eine positiv besetzte Beziehung aufbauen kann. Leistungs- und Lernmotivation ist bei persönlicher Zuneigung und Akzeptanz selbstverständlich größer, als wenn in der Lernsituation persönliche Animositäten mitschwingen. Lernblockaden entstehen häufig durch deprimierende persönliche Gefühlsumwelten. Vgl. Schulz v. Thun, Friedemann: Miteinander Reden. Störungen und Klärungen. Bd.I. Reinbek 1992.

[11])Berger; Luckmann, wie Anm. 2, S.153.

[12])Ebda., S.153 bis S.157.

[13])Der Erwerb kultureller Inhalte ist, ebenso wie die Aneignung der Sprache, in das Geflecht sozialer Interaktion, Kommunikation und innerfamiliärer Mediennutzung eingebettet. Vgl. auch Boehme-Dürr, Karin: Massenmedien und Spracherwerb. In: Neumann, Klaus; Charlton, Michael: Spracherwerb und Mediengebrauch. Tübingen 1990. S.149-168. Sie gibt einen kommentierten Überblick über Arbeiten und Forschungen zur Relevanz der Massenmedien für den frühkindlichen Spracherwerb.

[14])Diese Auffassung bestätigen die Ergebnisse der Studie von Renate Köcher: Familie und Lesen. Eine Untersuchung über den Einfluß des Elternhauses auf das Leseverhalten. Frankfurt/M. 1988. Auch sie betont den Vorbildcharakter der familiären Sozialisation für die Bildung kultureller Muster im Hinblick auf das Lesen von Kindern und Jugendlichen festgestellt. Das häusliche Vorbild wirkt nach Köcher intensiver als die schulische Lesesozialisation. Zur familiären Mediennutzung gehören Fernsehen und Lesen ebenso wie Radiohören oder der Umgang mit Personalcomputern. Innerhalb der Nutzungsgewohnheiten wird auch der Umgang mit Büchern und Printmedien vermittelt. Vgl. hierzu auch Hurrelmann, Bettina; Nowitzki, Klaus; Possberg, Heinrich: Familie und erweitertes Medienangebot im Kabelpilotprojekt Dortmund. Bielefeld 1988. Hier S.185.

[15])Hurrelmann; Nowitzki; Possberg, wie Anm. 14. Im Rahmen eines Pilotprojektes zur Nutzung des Kabelfernsehens wurde untersucht welche Strukturen die innerfamiliäre Mediennutzung beeinflussen. Im Mittelpunkt der Studie stand der Chancenvergleich von Lesen und Fernsehen im innerfamiliären Mediengebrauch. Das Fernsehnutzungsverhalten von 200 Familien mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehangebot und 200 Familien mit Kabelanschluß wurden hierfür zu Grunde gelegt. Die ersten Erhebungen fanden 1986 in Dortmund, und um eine Verzerrung der Ergebnisse durch Novitätseffekte auszuschließen, mit Jahresabstand - 1987 statt. In 20 Familien wurden Intensivinterviews durchgeführt und ebenfalls nach einem Jahr wiederholt. Hurrelmann definiert nichteheliche Verbindungen mit Kindern als: "längerfristige Lebensgemeinschaften von Erwachsenen und Kindern". Sie ist um eine Art Chancenvergleich zwischen Lesen und Fernsehen als Kulturtätigkeiten bemüht und vergleicht Fernsehen und Lesen im Hinblick auf ihre Einbindung in soziale Prozesse und die sozialen Funktionen, die diese für das Interaktionssystem Familie erfüllen. S.183.

[16])Ebda., S. 192. Die Entwicklung des Leseverhaltens in den Familien verläuft dahingehend, daß Lesen eher ein frauen- und damit mutterspezifisches Verhalten ist.

[17])Erfaßt wurde das Bücherlesen als Freizeitlektüre; Bilderbücher wurden miteinbezogen.

[18])Lesen und Fernsehen werden in ihrer Einbindung in soziale Prozesse innerhalb der Familien verglichen und die sozialen Funktionen untersucht, die beide Mediennutzungen im Interaktionssystem Familie erfüllen. Ebda., S.184 und 186-188: Da die Väter in der Regel bei der Programmauswahl dominant sind, sehen die Mütter oft Sendungen, die sie nicht selbst gewählt hätten. Diese hierarchischen Strukturen sind in Familien mit Kabelanschluß noch deutlicher ausgeprägt.

[19])Ebda., S.185: In der Dauer der Fernsehnutzung drückte sich für Kinder Erwachsenheit und Aufstieg in der Familienhierarchie aus. Die zeitliche Distanz zwischen dem ältesten Kind und den Eltern betrug an Werktagen fast 80% und verringert sich am Wochenende auf 50%. In Familien mit jungen Kindern (bis 14 Jahre) war das Fernsehen ein wichtiger sozialer Bezugspunkt: "Unter allen Medien gleichsam der Familienfocus gemeinsamer Rezeption". Mit den erweiterten Fernsehangeboten erhöhten sich infolge des größeren Angebotes die täglichen Sehzeiten. Für das Fernsehen wurde vermehrt Zeit aufgewendet, die für andere Tätigkeiten, wie auch das Lesen, nicht zur Verfügung stand.

[20]) Ebda., S.187. Auch wenn die Angaben zu den Sehgewohnheiten von den Befragten selbst "geschönt" wären, bleibt dennoch bemerkenswert, daß die Angaben zum Lesen nicht zu ähnlichen Resultaten heraufdefiniert wurden.

[21])Ebda., S.187: Die typischen Fernseh- und Lesesituationen der Kinder gestalten sich den Ergebnissen Hurrelmanns nach wie folgt: ca. 40% sehen zusammen mit der ganzen Familie fern; ca. 24% sehen zusammen mit Mutter oder Vater; ca. 23% sehen zusammen mit den Geschwistern oder anderen Kindern: ca. 14% sehen allein fern.

[22])Als "Kabelfamilien" werden im Projekt die Familien bezeichnet, die aufgrund ihres Fernsehempfangs durch die neue Kabeltechnik, über eine stark vermehrte Auswahl an Fernsehsendern verfügten.

[23])Je niedriger die soziale Schichtzugehörigkeit der Familie ist, um so häufiger wird der Mutter die soziale Kompetenz für das Lesen zugesprochen. Die Mütter lesen an Werk- und Wochentagen etwa gleich lange wie die ältesten Kinder, Väter dagegen lesen weniger lange als die jeweils jüngsten Kinder. Der Unterschied zwischen den Eltern kann kaum mit mangelnder Freizeit der Väter begründet werden, da diese sich wesentlich mehr Zeit für das Fernsehen nehmen. Die Ergebnisse lassen darauf schließen, daß die der Mutter zugeschriebene Affinität zum Buch und zum Lesen auch ein pädagogisch akzeptiertes "pflichtgemäßes" Interesse repräsentiert. Frauen verzichten zugunsten einer Lektüre häufiger auf das Fernsehen als Männer. Hurrelmann; Nowitzki; Possberg, wie Anm. 14, S.188.

[24])Ebda., S.189: In ca. 40% der Familien wird täglich vorgelesen, davon ist in mehr als 60% der Fälle die Mutter die Vorlesende, in lediglich 11% der Vater. In den verbleibenden 29% teilen sich die Eltern das Vorlesen. In ca. 60% der gesamten Haushalte wird nicht regelmäßig vorgelesen. Das Unbehagen vieler Eltern beim Vorlesen ist unter anderem auf Zeitmangel, fehlende Entspannungsmöglichkeiten und Ruhe, Probleme, sich emotional und kognitiv auf die Bedürfnisse der Kinder einzustellen sowie den Problemen, ein eigenes Interesse mit dem Vorlesen und den Lesetexten zu verbinden, zurückzuführen. Das Fernsehen ist in den Familien zu der Mediennutzung geworden, die am deutlichsten Gemeinsamkeiten vermittelt und Statusunterschiede symbolisiert. Ebda., S.187. Siehe hierzu auch Hurrelmann, Bettina; Hammer, Michael; Stelberg, Klaus: Familienmitglied Fernsehen. Fernsehgebrauch und Probleme in der Fernseherziehung in verschiedenen Familienformen. Opladen 1996.

[25])Gerade Jugendliche ab 12/13 Jahren haben oft in ihren Zimmern den abgeleg-ten "Zweitfernseher" der Familie stehen und sind so unabhängig von den Programmwünschen der Eltern.

[26])Fritz, Angela: Leserforschung in einer Mediengesellschaft. In: IASL 15/1990, 2. Heft. S. 202-216, hier S.212.

[27])Ebda., S.212. Die Lesefähigkeiten der Befragten zum Zeitpunkt der Erhebung werden in der Studie nicht erwähnt und sind auch nicht überprüft worden.

[28])Fritz, Angela: Lesen im Medienumfeld. Eine Studie zur Entwicklung und zum Verhalten von Lesern in der Mediengesellschaft. Gütersloh 1991. S.19.

[29])Köcher, wie Anm. 14. Sie spricht weniger von Lesesozialisation als vielmehr von "Leseerziehung". Für meine Arbeit bleibe ich bei dem Begriff der Lesesozialisation, weil er für mich mehr umfasst als nur "Erziehung", die m.E. einem fest umrissenen Kanon verpflichtet ist. Köcher verweist auch auf "ungewöhnliche" Lesekarrieren, wie z.B. unerwartete Leser, die erst spät unabhängig vom Elternhaus mit dem Lesen begannen und geht von einem Anteil dieser Gruppe an der Gesamtbevölkerung von 12% aus. Den Aspekt der "unerwarteten Leser" respektive den Abbruch von "Lesekarrieren" vertieft Köcher in: Lesekarrieren - Kontinuität und Brüche. In: Lesesozialisation Band 2. Gütersloh 1993. S.215-310. Vgl. dazu auch Kapitel VI. der vorliegenden Arbeit.

[30])Siehe hierzu auch Fritz, wie Anm. 28, S.16: "Die Gruppe der Familie ist gekennzeichnet durch eine feste Verteilung von Rollen, eine stabile bestimmte Interaktions- und Kommunikationsordnung und ihre Ausübung gesellschaftlicher Funktionen. Das oft beschworene 'einsame Kind vor dem Fernseher' scheint diesen Resultaten zufolge seltener zu sein, als das 'einsame Kind vor einem Buch', für das die Erwachsenen oft weder Teilnahme noch Interesse zeigen."

[31])Im Idealfall ist das Elternhaus in die Lesevermittlung durch die Schule mit einbezogen, was bereits durch eine Zusammenarbeit von Kindergärten, Tagesheimen und Vorschulen, wenn diese Anregungen nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Eltern anbieten, vorbereitet werden könnte. Mit einer derartigen Form der Prävention wäre eventuell zu verhindern, daß die Eltern - wie in der bislang üblichen Praxis - erst bei Lernschwierigkeiten aktiv werden sollen.

[32])Dazu führt Herr F.(1947), aus: "Also dazu muß ich mal sagen, ich glaube, ich werde nie in der Lage sein, ein Buch ausführlich zu lesen. Wenn ich das so übersehe, da fehlt mir die Konzentration. Ich lese am liebsten Märchen, denn sie sind in der Seitenzahl begrenzt. Ich habe einen Horror davor, wenn ich so ein Buch von 400 Seiten in die Hand nehme. So was habe ich einmal versucht zu lesen ... aber nie wieder. Ja, mit einem Buch, das probiere ich schon gar nicht mehr. Ich lese eben die Märchen, oder auch Kurzgeschichten, eben alles, was ich schnell abbrechen kann."

[33])Vgl. Lehmann, Albrecht: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt/M. und New York 1983. Hier S. 285: Er stellte dieses Phänomen bereits in seiner Untersuchung über die Leitlinien des Erzählens fest: "Sehr viele mochten zwar nicht über ihre Gegenwart klagen, sie litten aber unter einem lebensgeschichtlichen Mangel, ihrem Defizit an Schulbildung und - besonders die Ungelernten - unter ihrem beruflichen Ausbildungsdefizit. Und von den Handwerkern oder Fabrikarbeitern mit abgeschlossener beruflicher Ausbildung gab eine Anzahl überdies an, damals nicht den Beruf ihrer Wahl bekommen zu haben. Wer aber von einem solchen Mangel sprach, lebte nicht in dem Bewußtsein eigenen Versagens; er war überzeugt, in der Jugend gesellschaftlich benachteiligt gewesen zu sein und deshalb die falsche Richtung im Bildungsgang genommen zu haben. Diese Überzeugung schloß zumeist die Erkenntnis ein, die Chance zur individuellen beruflichen Entfaltung bereits in der Kindheit und Jugend nicht geboten bekommen zu haben."

[34])Im Falle von Frau K.(1958) und ihrer Schwester (1962) setzten die Eltern ihre Vorstellungen von der Berufswahl für Frauen durch. Beiden Mädchen wurde "nur" eine "einfache" Ausbildung in Form von höherer Handelsschule bzw. zur Sekretärin ermöglicht, mit dem Verweis "daß sie ja sowieso heiraten würden". Dem Bruder da-gegen finanzierten die Eltern ein Medizinstudium.

[35])So Frau L.(1930). Sie gab an, nach dem Abitur 1948 eine Schneiderlehre absolviert zu haben, "weil man nach den Kriegszeiten etwas Praktisches haben wollte mit dem man sich auch in Notzeiten versorgen könnte."

[36])Als Beispiel sei hier Frau K.(1936) erwähnt, die gerne Goldschmiedin lernen wollte. Abgesehen davon, daß sie Linskhänderin ist und die Werkzeuge für sie damals von den Eltern hätten extra angeschafft werden müssen, hieß es: " Das ist für ein Mädchen nicht nötig. Du lernst Schmuckverkäuferin, das ist gut."

[37])Herr B. ist seit mehreren Jahren als Gewerbelehrer tätig und beschäftigt sich intensiv mit Personalcomputern. Er gehört auch zu den wenigen Befragten, die bereits früh "Internet"-Angebote nutzten. Für den Schulunterricht "surft" Herr B. im speziellen Angebot für Lehrer, das über die Schulbehörde angeboten wird.

[38])Beide betonen die disharmonischen Familienverhältnisse und ein sehr gespanntes Verhältnis zu ihren Müttern, von denen sie geschlagen wurden.

[39])Vom meinen Informanten waren Herr K.(1934) und seine Familie die einzigen, die direkt bei einem Bauern eine Unterkunft zugewiesen bekamen. Er sagte dazu: "Wir lebten beim Bauern und nach der Schule mußte ich dann gleich auf dem Hof helfen."

[40])Vgl. Weber-Kellermann, Ingeborg: Die Fünfziger Jahre. In: Die Fünfziger Jahre. Beiträge zu Politik und Kultur. Hrsg. Dieter Bänsch. Tübingen 1985. S. S.163-183, hier S.171. Sie weist in ihrem Aufsatz ausdrücklich auf die unbeaufsichtigten, teils sehr brutalen Spiele dieser Kindergeneration hin. Vgl. zu dieser Thematik auch Preuss-Lausitz, Ulf: Vom gepanzerten sinnstiftenden Körper. In: Ders. (Hrsg.): Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Weinheim und Basel 1983. S.89-107, hier S. 91/92. "Die Eltern waren zu sehr damit beschäftigt, ihr und unser Leben zu sichern, als daß sie den Kindern hätten nachsehen, gar nachsteigen können: Die Trümmerlandschaft war Freiraum von elterlich nachbarschaftlichen Kontrollen, sie war 'befreites Land'".

[41])Vgl. Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Medienerziehung bei Kindern im Vorschulalter. München 1990. Hier S.5. Dies.: Handbuch Medienerziehung im Kindergarten. Band 1 u.2. Opladen 1994.

[42])Vgl.Kindergarten heute, Fachzeitschrift für die Erziehung im Vorschulalter. Ausgaben: 1979, Heft 1 und 2: Medien und Fernseherziehung im Kindergarten. Heft 4/79: Mit Fernsehen lernen. Heft 3/1982: Mit Kassetten leben. Die Auswirkungen der veränderten Medienumwelt auf Kinder im Vorschulalter werden im Kindergarten recht schnell wahrnehmbar durch auffälliges Verhalten von Kindern, die von der Vielfalt ihrer Medieneindrücke überfordert sind.

[43])Waren vor 1970 Einzelkinder noch die Ausnahme - fast jedes Kind hatte mindestens ein Geschwisterkind und lebte im klassischen Familienverband von Eltern und Kindern - so sind heute dagegen Kinder mit mehr als einem Geschwisterkind, in der Minderheit. Die Zahl der alleinerziehenden Eltern steigt, ebenso wie die von getrennt lebenden oder geschiedenen Eltern. Derart sich wandelnde familiäre Konstellationen und damit verbundene Veränderungen der Lese- und Mediensozialisation werden von den Kindern in den Kindergarten hineingetragen und verändern den Aufgabenbereich der Kindergartenarbeit.

[44])Leseanregungen und die Lesevermittlung im Rahmen der Kindergartenarbeit können wichtige Impulse für die Internalisierung des Umgangs mit gedruckten Medien geben. In der Ganztagsbetreuung befinden sich auch Schulkinder, die häufig ein ausgeprägtes ( einseitiges) Medienverhalten mitbringen. Mit Kindern, die bereits lesen können, ist eine vielfältige Bucharbeit ergänzend zur oder auf der Basis der schulischen Vermittlung möglich.

[45])In den von mir durchgesehenen Weiterbildungsverzeichnissen und Fortbildungsangeboten für Erzieherinnen wurde das Buch als Medium in den letzten Jahren selten in den Interessenmittelpunkt gerückt. Die qualitative Auswahl der Bücher sowie der Umfang und die Regelmäßigkeit der Beschäftigung mit ihnen sind den Erzieherinnen jedoch frei gestellt. Im Interview berichtete mir eine von 1991 bis 1993 "berufsbegleitend" weitergebildete Erzieherin, daß das Fach Medienkunde pro Halbjahr in jeweils zwölf Unterrichtsstunden thematisiert wurde.

[46])Für die Praxis heißt dies, daß ergründet wird, ob auffälligen Kindern neben dem Fernsehen keine anderen Medien und damit Anregungen zur Verfügung stehen. Für einige Kinder übernimmt der Fernseher die Rolle eines Sozialpartners. Andere haben sich an das habitualisierte "Hinschauen" bereits dermaßen gewöhnt, daß sie bloß um des Kontaktes willen fernsehen. Vgl. hierzu Barth, Klaus: Vom Kindergarten zur Grundschule, in: Kindergarten heute, Heft 3/93, S.18-26; Rogge, Jan-Uwe: Kinder können fernsehen. Reinbek 1990.

[47])Ein anderes Bild der Lesesozialisation durch den Kindergarten ergibt sich heutzutage für die Kinder der Befragten der zweiten und dritten Lesergeneration. Die deutliche Mehrheit von ihnen ging, bzw. geht seit dem vierten Lebensjahr in einen Kindergarten, so daß auf sie bereits früh ergänzende lesesozialisierende Institutionen einwirken.

[48])Vgl. Lemke, Dietrich: Bildung 2000 in Hamburg. Eine Studie zur Zukunft von Schule und Berufsbildung. Hamburg 1988. S.11. In den ersten Jahren nach 1945 erhielten nur 7% der Schüler eines Jahrgangs ein Abiturzeugnis und damit die Allgemeine Hochschulreife. Heute sind es über 60%.

[49])Ebda., S.45. In den Lehrplänen der Hamburger Grundschulen von 1982. Hamburg 1982. S. 2, heißt es zur Aufnahme: "Die Grundschule nimmt alle sechsjährigen schulfähigen Kinder aus der Familien- und Kindergartenerziehung auf und führt sie in einem vierjährigen gemeinsamen Bildungsgang bis zum Übergang in die Beobachtungsstufe".

[50])Ebda., auf S.2 wird das Lesen folgendermaßen definiert: "Lesen bedeutet, die in den Zeichen der Schrift festgehaltene Sprache zu entziffern und zu verstehen". Ablauf und Inhalt des Erstleseunterrichts regeln die Richtlinien der Curricula. Die beim Lesen zusammenwirkenden Grundtätigkeiten des Lesens wie: Laute den Schriftzeichen regelmäßig zuordnen, Schriftzeichen und Laute zum Wort zusammenlesen, Wort- und Wortgestalten wiedererkennen, syntaktische Bezüge intuitiv beachten, Sinnstützen in Text und Kontext nutzen, sollen den Schülern bis zum Ende der dritten Schulklasse, spätestens mit dem Ende der Grundschulzeit geläufig sein.

[51])In der Praxis ist der Erfolg dieser Erstlese-Lehrgänge vom Lernniveau des jeweiligen Kindes abhängig. Die Hamburger Schulbehörde hat 1994 ein Konzept zur Förderung gerade der Lese- und Rechtschreibschwachen Schüler ausgearbeitet und ist bemüht, dies in allen Grundschulen des Einzugsbereiches zu verwirklichen. Um den sich stets verändernden Anforderungen gerecht zu werden, entwickelte man in den letzten zehn Jahren neue Formen und Methoden des Leseunterrichtes, z.B. das Lesenlernen ohne Fibel und den "offenen Unterricht".

[52])Entsprechend eines, häufig durch die Inhalte der Fibeln festgelegten, Grundwortschatzes können die Schüler im Laufe der zweiten Klasse allmählich an kürzere kompakte Einzeltexte herangeführt werden, wie Abzählverse, Reime, Gedichte, kurze Beschreibungen.

[53])In der Hauptsache ist der Deutschunterricht der Grundschulen auf den "Lese- und Schreiberwerb" ausgerichtet. Ein mediengestützter Unterricht unter Einbeziehung der kindlichen Mediennutzungsgewohnheiten findet nur in Ausnahmefällen, am ehesten in Form von Projektarbeit statt. Es obliegt dem Engagement der Lehrkräfte, über die Grundanforderungen des Erstleseunterrichtes hinaus auch andere Medien einbeziehen.

[54])So erwähnte Frau L.(1958), ausgeb. Lehrerin/Hausfrau, daß sie in der Teenagerzeit zahlreiche Leseempfehlungen ihres zwei Jahre älteren Bruders übernahm, nicht zuletzt auch deswegen, weil von den Eltern keinerlei Anregungen kamen.

[55])In den Schulbesuchszeiten der ersten Generation und einiger Befragter der zweiten wurde noch von der "Volksschule" gesprochen. Unter dieser Bezeichnung wurden die vier ersten vier Schuljahre sowie die anschließenden fünf Hauptschuljahre zusammengefasst. Im Zuge der Reformen der siebziger Jahre ging man dazu über die ersten vier Schuljahre als "Grundschulzeit" zu bezeichnen. So gibt es heute z.B. Gesamtschulen mit Grundschulabteilung, aber ebenso reine Grundschulen, die nur die Jahrgänge der ersten bis vierten Schulklasse umfassen.

[56])Nach den ersten massiven Bombenangriffen auf die Großstädte wurden Schüler und Lehrer im Rahmen der sogenannten "Kinder-Land-Verschickung" auf dem Lande untergebracht, wo in Schullandheimen und ähnlichen Einrichtungen weiter unterrichtet werden sollte. Vgl. hierzu auch die Ausführungen zu diesem zeitweiligen "Lesen im dörflichen Umfeld" in diesem Kapitel unter IV.1.1. Siehe auch Bake, Rita (Hrsg.): "aber wir müssen zusammenbleiben" Mütter und Kinder in Bombenkriegen 1943 bis 1993. Gespräche. Hamburg 1993. S.24-130; Deide-Lüchow, Jutta: Kinderlandverschickung. In: Böge, Volker; Deide-Lüchow, Jutta: Bunkerleben und Kinderlandverschickung. Eimsbüttler Jugend im Krieg. Hamburg 1992. S. 166-220.

[57])Frau Z. springt beim Erzählen in der Abfolge der Ereignisse etwas hin und her, dennoch ist diese Schilderung sehr anschaulich. Offensichtlich wechselt ihre Erzählorientierung zwischen der materiellen Not als Leitfaden und dem Thema des Interviews, der Lesesozialisation, im konkreten Fall der Schulerinnerung.

[58])Beleg Herr K.(1934), Bäcker/Zollbeamter: "Also wir waren ja "die Flüchtlinge", und ich mußte dann dort auch zur Schule gehen. Es war eine Dorfschule, in der alle Jahrgänge in einem Raum unterrichtet wurden. Der Lehrer hat das denn so aufgeteilt, weil wir soviele waren, daß die Klassen 5 bis 8 von 8 Uhr bis 13 Uhr kamen und die Klassen 1 bis 4 von 13.30 bis 16 Uhr. Ich war recht schnell einer der Klassenbesten. Und ich habe dann für die reichen Bauernsöhne gegen Belohnung die Hausaufgaben und auch die Strafarbeiten erledigt. Gegen Butterbrote hab' ich das gemacht. (...) Auch später bei den Lehrstellen, da hatten die Jungen aus dem Dorf alle eine, die hatten ja die Beziehungen. Aber für mich gab's erst keine." Vgl. zur Problematik der Stigmatisierung auch: Lehmann, Albrecht: Im Fremden ungewollt zu Haus. Flüchtlinge und Vertriebene 1945 bis 1990. München 1991.

[59])Lediglich Herr L.(1965) erwähnte die Verwendung von Lesebüchern in der 3. und 4. Klasse. Für diese Generation hieß es statt "Rechnen" dann bereits "Mathematik", und die Schüler wurden früher mit Beispielen aus der Mengenlehre konfrontiert, als die älteren Generationen, die diese erst ab der 5. Klasse kennenlernten. Anfang der 70er Jahre wurde z.B. in Hamburg auf die Ganzwortmethode ausgerichtete Fibel "Tür und Tor", nach der in der zweiten Generation die meisten Schüler unterrichtet worden waren, in vielen Schulen von der analythischen Ganzwortfibel "Fu und Fara" abgelöst. Diese Fibel war nicht mehr durchgehend per Hand illustriert, sondern wurde auch mit Fotos bebildert, was den Kindern einen Realitätsbezug erleichtern sollte.

[60])Zugleich ließ sich aber aus den Erinnerungen die Tatsache rekonstruieren, daß die leseinteressierten Schüler vielfältige Anregungen zum Lesen in der Freizeit von der außerschulischen Umwelt, also der Familie und dem Freundeskreis (Peer-Group) erhielten.

[61])So fehlt von Lehrerseite aus häufig das Verständnis für das Leseverhalten, die intensive Mediennutzung der Jugendlichen und ihre veränderten Rezeptionsweisen die Vermittlungskompetenz. Diese Veränderungen entstanden z. B. in den letzten Jahren auch mit den mittlerweile weit verbreiteten Videospielen für Kinder, zu deren erfolgreicher Benutzung schnelle Reaktion und ein rasches visuelles Wahrnehmungsvermögen gehören. Vgl. hierzu auch Rosebrock, Cornelia: Phantasie und Schullektüre. In: Dies. (Hrsg.): Lesen im Medienzeitalter. Weinheim und München 1995. S.195-210, hier S. 199. Sie spricht sogar davon, daß die vielfältigen Sozialisationsfunktionen der Schule dem Lesen und der Literatur gegenüber eher "in so hohem Maße feindlich (sind), weil das Verhältnis von Leser und Text seinem Wesen nach kein Gegenüber von Subjekt und Objekt sein kann." Rosebrock fordert, daß der Literaturunterricht auch ein Forum für eigene Lesevorlieben der Schülern sein sollte. Ebda., S.208/209.

[62])Die Zuordnung der Lernbereiche und der Lerninhalte des gymnasialen Deutschunterrichtes ist in den Bundesländern nicht einheitlich, da die Lehrplangestaltung Ländersache ist.

[63])Die Rechtschreibung wird während der Beobachtungsstufe zugunsten des Ausdrucks und der Selbständigkeit der Erarbeitung kaum bewertet. Ab der 7. Klasse kann eine zu fehlerhafte Orthographie die Zensur bis zu einer Note senken. Eine wichtige Aufgabe des Deutschunterrichtes ist die Förderung der Schüler im Umgang mit Sprache und Literatur. Die Richtlinien der Hamburger Curricula sehen besonders für die Klasen 5-8 vor, durch Jugendliteratur "die Lesefreude zu wecken und (zu) erhalten (...), weil sie den Zugang zur Auseinandersetzung mit Literatur dadurch erleichtert, daß sie den Schülern meist keine allzu schwierige Sprache oder Komplexität in der Darstellung bietet". Vgl. Freie und Hansestadt Hamburg: Hamburger Richtlinien: Gymnasium. Hamburg 1992. S.4.

[64])Ergänzend wird die schulische Medienerziehung als fächerübergreifende Aufgabe bewertet und im Deutschunterricht speziell anhand von Medien wie Zeitungen und Zeitschriften, Rundfunk, Film und Fernsehen behandelt. In den Klassen 5-10 soll neben den literarischen Lesestoffen regelmäßig Medienpädagogik in den Unterricht einfließen.

[65])Vgl. Ebda., S.4-6. Die Nutzung aller außerschulischen Beschäftigungsangebote wie Bibliotheksbesuche und Autorenlesungen sind abhängig vom Engagement der Lehrkräfte. Schulische Lesesozialisation wird meistens unter dem Bereich "Literatur und Sachtexte" subsummiert. Für die Klassen 7 und 8 ist z.B., im Hamburger der Lehrplan die Lektüre von Jugendliteratur, kurzen und längeren Erzählformen und Gedichten vorgesehen, sowie ergänzend dialogische Texte und Reportagen.

[66])Bonfadelli, Heinz; Fritz, Angela: Lesen im Alltag von Jugendlichen. In: Lesesozialisation 2. Gütersloh 1993. S.7-214, hier S.202.

[67])In den 70er Jahren gewinnt in der Diskussion um den Literaturuntericht das "Sachschrifttum" an Bedeutung und rückt damit in den Vordergrund. Die Lektüre von Sachtexten war bis dahin weitgehend aus dem Unterricht ausgeklammert worden. Es ging von nun an nicht mehr nur um das Verstehen von Dichtung, sondern auch um das Informationslesen, da viele in der Praxis zu bewältigende Texte in den Bereich des Sachschrifttums gehören wie Zeitungen, Zeitschriften, Sachbücher. Vgl. Baumgärtner, Alfred C. (Hrsg.): Lesen - Ein Handbuch. Hamburg 1974. S.384. Siehe auch Bünning, Gertrud: Lesemotivation, aber wie? Düsseldorf 1981. S.15.

[68])Vgl. ebda., S.15: Die grundsätzliche Entwicklung führte vom "reinen Lesen", welches an anspruchsvollen literarischen Vorlagen geschult wurde, hin zu einem eher rational bestimmten, möglichst kritischen Umgang mit Texten im Leseunterricht. Lesen in der Grundschule. Gütersloh 1991. S.5.

[69])Stiftung Lesen (Hrsg.): Gutachten. In: Lesen im Internationalen Vergleich. Mainz 1990. S.18. Lehmann, Rainer H.; Peek, Rainer; Pieper, Iris; von Stritzky, Regine: Leseverständnis und Lesegewohnheiten deutscher Schüler und Schülerinnen. Weinheim u. Basel 1995. Vgl. hierzu auch Hurrelmann, Bettina; Hammer, Michael; Nieß, Ferdinand: Leseklima in der Familie. In: Lesesozialisation 1. Gütersloh 1993. S.202ff. u. S.224. In Bezug auf die Inhalte des Deutschunterrichtes muß "die Wirkung des Literaturunterrichts (...) nach den vorliegenden Ergebnissen also in erster Linie im Bereich qualitativer Aspekte des Lesens gesucht werden. Die Schule stärkt unter günstigen Bedingungen, d.h. bei einer guten materiellen Ausstattung und vor allem bei einer starken Gewichtung des Buchlesens im Unterricht, neben der Fähigkeit zum flüssigen Lesen die kognitive und emotionale Auseinandersetzung mit dem Lesestoff und gibt damit auch wichtige Impulse, an die die familiale Lesesozialisation anknüpfen kann".

[70])Vgl. Peiser, Wolfram: Die Fernsehgeneration. Eine empirische Untersuchung ihrer Mediennutzung und Medienbewertung. Opladen 1996. Er verweist darauf, daß dieser so bezeichnete Generation gegenüber den älteren Generationen nicht zwangsläufig eine höhere Fernsehnutzung nachgewiesen werden kann, auch wenn dies gemeinhin mit der Bezeichnung "Fernseh- oder Medienkinder" häufig impliziert wird. Siehe hierzu auch: Wüllenweber, Walter: Wir Fernsehkinder. Eine Generation ohne Programm. Reinbek 1996.

[71])Dementsprechend erscheint es sinnvoll, schulische Lesevermittlung und Literalisierung nicht allein auf das Unterrichten von Grammatik und den Kanon klassischer Literatur zu beschränken, sondern den Umgang mit dem gesamten Spektrum gedruckter Medien einzubeziehen, damit Leseanregungen möglichst vielfältig sind. Werner Graf und Cornelia Rosebrock weisen beide auf die Bedeutung von Leseanregungen, die der Lebenswelt der Schüler entsprechen und nicht völlig entfernt von ihren Lebenswelten gewählt sind hin. Vgl. Graf: Fiktionales Lesen und Lebensgeschichte. In: Rosebrock (Hrsg.): Lesen im Medienzeitalter. Weinheim 1995. Rosebrock, wie Anm. 61. Die Eltern der ersten Generation meiner Informanten hatten nur minimale Mitsprachemöglichkeiten in schulischen Angelegenheiten. Entscheidungen, wie die Anmeldung zu einer höheren Schule orientierten sich vor allem an den Empfehlungen der Lehrer.

[72])Im Fall von Herrn K. (1934), kriegsbedingt bereits nach sieben Jahren.

[73])Rosebrock, wie Anm. 61, S.199. Sie ist der Auffassung, daß die schulische Textbehandlung "einen geradezu gegensätzlichen Umgang und Betrachtungsweise" von Texten gegenüber dem privaten Lesen verlangt. Die schulische Lektüre geschieht in einer Art "Vogelperspektive" auf den Text, ohne die Emotionen des Lesers zu berücksichtigen.

[ ]74)Baacke, Dieter; Sander, Uwe; Vollbrecht, Ralf: Lebenswelten Jugendlicher. Band 1: Lebenswelten sind Medienwelten. Opladen 1990. Hier S.252. Sie fordern, diese Lernelemente für den genannten Schulbereich, weil sie hier besonders Schüler aus sozial schwachen Familien gefährdet sehen, bzw. in einer anregungsarmen Umwelt vermuten. Die Intentionen der Berufsschulen können nicht literarisch oder schöngeistig orientiert sein, denn sie verfolgen berufsorientierte Unterrichtsziele. Das Altersgefälle der Auszubildenden ist recht groß ist, so daß die Klassen entsprechend heterogen zusammengesetzt sind. Je nach Berufssparte treffen in den Berufsschulklassen Absolventen mit Hauptschulabschluß auf Abiturienten. Häufig ist das primäre Unterrichtsziel die Nivellierung des Leistungsgefälles unter den Schülern.