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Lesen im Lebenslauf


Lesesozialisation und Leseverhalten 1930 bis 1996


im Spiegel lebensgeschichtlicher Erinnerungen




Dissertation


zur Erlangung der Würde des Doktors der Philosophie


der Universität Hamburg




vorgelegt von

Susanne Limmroth-Kranz

aus Kassel


Hamburg 1997

 

 

1. Gutachter: Prof. Dr. Albrecht Lehmann

2. Gutachter: Prof. Dr. Gerhard Lutz

Die mündliche Prüfung zum Dr. phil. fand am 27. April 1997 statt


 

Inhalt:

 

Einleitung


I. Lesen als Forschungsfeld


II. Lesen - zur Geschichte und Gegenwart einer Kulturtechnik


III. Lesen im Lebenslauf


IV. Die Lesesozialisation und ihre Vermittler


V. Das Buch als Medium - Varianten und Bezugsquelle
n


VI. Lesezeiten, Lesemotivationen und Funktionen


VII: Schlußbetrachtung: Lesesozialisation und Lesen im Lebenslauf


Literaturverzeichnis


Anhang

 


Einleitung

Angeregt durch die kulturpessimistischen Prognosen von Marshall McLuhan und Neil Postman[1] ), die technischen Entwicklungen der Neuen Medien seien für den Niedergang der Lesekultur verantwortlich, begann ich, mich mit der Verankerung und Bedeutung des Lesens im Lebenslauf zu beschäftigen. Postma>


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gangs einen triumphalen kulturellen Siegeszug des Fernsehens und zeichnete das Schreckensbild einer sich geradezu seuchenhaft ausbreitenden Infantilisierung der Gesellschaft. Interessanterweise scheinen in Deutschland aber die mittlerweile erhobenen empirische Ergebnisse diese Vision zu widerlegen: Sie weisen nach, daß die quantitative Verbreitung und die Dauer des Lesens in den letzten 35 Jahren keineswegs abgenommen haben.[2] ) Andererseits hat sich die Verbreitung der Medien und der Zugang zu ihnen ohne Zweifel drastisch verändert. Der Grad der Auswirkungen dieser Entwicklung auf die Lesekultur ist aber nach wie vor nicht eindeutig zu ermessen. In diesem Zusammenhang bilden die Fragen nach den Voraussetzungen und Bedingungen der Entwicklung zum Leser und nach den Funktions- und Einsatzvarianten von Lesen im Lebenslauf, die offensichtlich durch bestimmte lebensgeschichtliche Entwicklungen und Knotenpunkte geprägt werden, den Mittelpunkt meines Forschungsinteresses.

In der vorliegenden Arbeit werden anhand der Analyse fokussierter Interviews, die ich mit Angehörigen dreier Generationen, geboren zwischen 1928 und 1970 führte, die Auswirkungen der inner- und außerfamiliären sowie institutionellen Strukturen der Lesesozialisation auf das Leseverhalten im Lebenslauf untersucht. Anschließend gehe ich auf die Bedeutung des Lesens im Lebenslauf ein: Wie wird das Lesen im Lebenslauf installiert und wie sieht die Lesepraxis der Befragten aus? Außerdem soll versucht werden, die Gründe für die Entwicklung zum Leser oder Nicht-Leser nachzuzeichnen. Im Zentrum der Betrachtung stehen die Fragen nach den Inhalten, Veränderungen und Auswirkungen der Lesesozialistion, der individuellen Lesepraxis sowie der Lesestoffwahl. Dies impliziert, das Lesen auf generationstypische, auf lebenslaufspezifische und geschlechtsspezifische Besonderheiten zu untersuchen.

Das Lesen gehört seit zwei Jahrtausenden zu den zentralen Kulturpraktiken des europäischen Abendlandes. Das Beherrschen oder Nicht-Beherrschen der Lesefertigkeit hat jahrhundertelang Menschen und soziale Schichten voneinander getrennt. Infolge von Reformmaßnahmen wie der Schulpflicht konnte sich die Vermittlung des Lesens und Schreibens zumindest theoretisch für die Bürger der europäischen Staaten durchsetzen. Zugleich ist zu konstatieren, daß die sogenannte Alphabetisierung oder auch Literalisierung bis heute selbst in den Industrienationen bei weitem nicht alle Bevölkerungsschichten erreicht hat. Neue Medien wie Radio und Fernsehen erweitern zwar die Möglichkeit von Kommunikation mittels nicht-geschriebener Sprache, andererseits sind selbst neue Medien wie die Computer heute ohne Schrift und Lesen nicht denkbar. Leider wird häufig erst in der Ausgrenzung der Analphabeten deutlich, daß die Bedeutung des Lesens für den Lebenslauf eines Menschen nicht nur rein persönlicher Natur ist, sondern es auch für das jeweilige soziale Lebensumfeld der Leser enorme Bedeutung erlangt.

Das Beherrschen der Kulturtechnik Lesen ist notwendig und weiterhin aktuell, um einerseits am gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß teilnehmen zu können und andererseits ganz persönliche Chancen und Möglichkeiten, sei es auf privater oder beruflicher Ebene, zu verwirklichen. Tatsächlich wird das Lesen von den meisten Menschen lebenslang benötigt, denn Lesen stellt eine Schlüsselkompetenz für die Orientierung in der Medienwelt und für den kompetenten Umgang mit den einzelnen Medien dar. Analphabeten sind in einer multimedialen und hoch technisierten Gesellschaft wie der unseren zunehmend stigmatisiert und hilflos. Die Fähigkeiten, die zum Lesen gehören, werden durch eine ausgeprägte Lesepraxis gefördert. Wie diese Fähigkeiten erworben werden und welchen Stellenwert das Lesens für das Individuum im Lebenslauf einnimmt, ist bisher noch nicht befriedigend geklärt worden.

Das Lesen im Lebenslauf zählt zum Interessengebiet einer sozial und historisch orientierten und empirisch arbeitenden Kulturwissenschaft wie der Volkskunde. Mit Hilfe volkskundlicher Methoden können präzisere Kenntnisse über die Mechanismen des Lesens und seine Integration in das Leben der Leser gewonnen werden, denn Lesen als soziales Handeln ist Bestandteil des alltäglichen Lebens.

In den letzten 20 Jahren gab es nur wenig volkskundliche Arbeiten speziell zum Themenkomplex Lese(r)forschung, zur Lesesozialisation und deren Auswirkung auf den Alltag der Menschen. Dies verwundert, denn die Praxis und Wirkung der Lesesozialisation ist durchaus als volkskundliches Thema zu begreifen. Es kann unter verschiedenen Blickrichtungen angelegt werden, von denen hier nur an die Anfänge der historischen Lese(r)forschung, die Familien-, die Alltagsforschung und Arbeiten zur Mentalitätsgeschichte erinnert sei.

Als Gegenstand der Volkskunde ist die Erforschung der Lesesozialisation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Beitrag zur Grundlagenforschung für kulturelle Entwicklungen. Lesesozialisation wird von mir als ein soziales Geflecht von ineinandergreifenden Vermittlungsinstanzen und somit als bedeutend für die Teilhabe an der Kultur im gesamten Lebenslauf begriffen. Auch das Lesen ist ein Bestandteil der durch die Kultur organisierten Normen, die unter anderem das Sozialverhalten - in diesem Fall die Teilnahme an den kulturellen Angeboten einer Gesellschaft ermöglichen und regulieren.[3] )

Eine Diskussion der Ansprüche, die im Rahmen der Lesesozialisation an die vermittelnden Instanzen gestellt werden, sowie Überlegungen zu ihrer Realisierbarkeit stehen in der Volkskunde noch aus. Mit der vorliegenden Arbeit soll hier eine erste Grundlage geschaffen werden. Zugleich wird ein Überblick über das Zusammenwirken der verschiedenen Strukturen der Lesesozialisation gegeben, die offenkundig, aber auch latent wirken. Von volkskundlichem Interesse ist ferner, inwieweit das Lesen als kulturelles Verhaltensmuster in besonderen Lebensphasen Relevanz erlangt, oder, anders formuliert, inwieweit konkrete biographische Veränderungen das Leseverhalten und die Lesefunktion beeinflussen. Auf das Lesen im Lebenslauf bezogen, wird hinterfragt, in welchen Phasen, wie Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter, Familienleben, Schule, Beruf und Freizeit das Lesen bedeutsam ist, und vor allem, wie sich dies und die Funktionen des Lesens im Lebenslauf installieren und modifizieren. In welchen Interessenskontexten wird Lesen gewählt, welcher Stellenwert kommt den Mediennutzungsvarianten im Zuge der mittlerweile umfassenden Medienvielfalt zu? Diese Forschungslücke soll durch die vorliegende Studie zum "Lesen im Lebenslauf" ansatzweise geschlossen werden.

Sie soll allerdings nicht den Kanon volkskundlicher Familienforschung erweitern, der durch Arbeiten zu Kindheit, Weihnachten, Wohnen, Kleidung, Nahrung bereits umfassend bearbeitet wurde. Angestrebt wird vielmehr, unter Berücksichtigung der Familienstrukturen und ihren Einwirkungen auf das Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen, die Entwicklung des Individuums zum Leser nachzuzeichnen. Dabei ist zu vergegenwärtigen, daß Lesen als Kulturtechnik ein wesentlicher Bestandteil unseres Lebens ist und nicht zuletzt auch eine kompetente Teilnahme an den kulturellen Angeboten einer Gesellschaft ermöglicht. Dieser Gedanke erweitert das Forschungsinteresse am Lesen über die familiäre Lesesozialisation hinaus auf die außerfamiliäre institutionelle Lesesozialisation in Kindergarten, Schule oder Bibliotheken. Leseverhalten, das sich aufgrund der von ihnen initiierten Lesesozialisation bereits in der Jugend herausbildet, manifestiert und damit gelebt wird, prägt die spätere Einstellung im Umgang mit Medien oft lebenslang.

Die Möglichkeiten des Einzelnen, das Lesen für die eigenen Ziele differenziert einzusetzen, werden entscheidend von den Inhalten der jeweiligen Lesesozialisation geprägt. Während der Sozialisation wird eine Fülle von Normen, Werten und Kulturmustern verinnerlicht, darunter auch jene, die im Zusammenhang mit dem Lesen stehen. Je nachdem wie intensiv die an der Lesesozialisation beteiligten Institutionen sowie spezifische eigene Erlebnisse einwirken, entwickelt sich das Individuum zu einem lebenslang habitualisierten Leser, einem sporadischen Leser oder einem Nicht-Leser.

Die Bedeutung des Lesens für den lebensgeschichtlichen Zusammenhang korreliert mit der jeweiligen Lesesozialisation und dem daraus entstandenen Leseverhalten sowie der ergänzenden Mediennutzung. Bei der Verortung des Lesens im Lebenslauf ist ferner zu berücksichtigen, daß unterschiedliche Intensitäten des Lesens bestimmten lebensgeschichtlichen Phasen zuzuordnen sind. Eingeleitet werden diese in der Regel von einschneidenden Ereignissen oder Veränderungen, wie der Einschulung, dem Beginn der Ausbildung, Familiengründung. Die Erhellung dieser spezifischen Knotenpunkte ist für die Lebenslaufforschung von Interesse. Auch die Relevanz von Lese- und Medienkompetenz für die Alltags- und damit auch für die Berufswelt ist ein Themengebiet, dem sich die gegenwartsbezogene Volkskunde bislang nicht gewidmet hat.

Während das Lesen und seine Funktionen für die Mitglieder einer medial geprägten Gesellschaft von der Volkskunde nahezu ignoriert wurden, rückten in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung die Lesesozialisation und ihr Bezug zum gesamten Mediennutzungsverhalten verstärkt in den Blickpunkt des Forschungsinteresses. Das Leseverhalten wird hier weniger historisch oder rezipientenorientiert als vielmehr in seiner Bedeutung für den gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozeß analysiert. In den gesellschaftlichen Diskurs über den Stellenwert des Buches in der Medienumwelt reichen auch Kontroversen über Freizeit und Kultur hinein. Es kann davon ausgegangen werden, daß Menschen heutzutage "Multi-Media-Nutzer" sind und der ausschließliche "Leser" oder "Seher" eine Ausnahme darstellt.

Im Rahmen der Sozialisation werden die Normen, Werte und Kulturmuster vom Individuum internalisiert, darunter auch jene, die im Zusammenhang mit dem Lesen stehen. Als ich mich Ende der 80er Jahre erstmals mit der Frage nach der Entwicklung zum Leser befaßte, tauchte der Begriff der "Lesesozialisation" zunächst nirgends auf. Seit Mitte der neunziger Jahre wird der Begriff in der Forschung verwendet.

Ich verstehe die Lesesozialisation nicht ausschließlich als die Einführung eines Individuums in die auf die Literalisierung bezogenen Techniken und Normen einer Gesellschaft, sondern vielmehr auch in das soziale Handeln Lesen, das situational orientiert ist. Der Lesefertigkeit und ihrer Anwendung im praktischen Leben liegt stets eine Motivation zugrunde, die aufgrund persönlicher biographischer Voraussetzungen entstanden und so Bestandteil der Sozialistion ist. Das Lesen läßt Veränderungen und Wendepunkte erkennen, aber ganz deutlich auch Kontinuitäten, die sich unter anderem in der Lektüreauswahl, den Lesezeiten und in der Funktion des Lesens für den Leser niederschlagen.

Das genannte Spektrum der Sozialisationsinstanzen, die neben der Familie wirken, wie Kindergarten, Schule, Weiterbildungsstätten, Arbeitsplatz und Freundeskreise, wird unter der funktionalen Notwendigkeit betrachtet, daß es heutzutage multimedial ausgerichtet ist. Wer sich aktuell mit der Thematik "Lesen im Lebenslauf" beschäftigt, muß auch berücksichtigen, daß es eine von den audiovisuellen Medien isolierte Lesesozialisation nicht mehr gibt. Sie ist mittlerweile Teil eines umfassenden Mediennutzungsverhaltens, das als ein Zusammenspiel der verschiedenen Instanzen während der Primär- und Sekundärsozialisation darauf ausgerichtet ist, eine größtmögliche Lese- und Medienkompetenz zu erreichen. Die Inhalte der Lesesozialisation werden unter anderem von den gültigen sozialen Wertvorstellungen und Normen bestimmt, wie z.B. dem Prestige von Belesenheit, der Kenntnis eines bestimmten Literaturkanons und der Notwendigkeit des Lesens im späteren Arbeitsleben. Dabei differiert die Lesesozialisation je nach Familienstruktur, dem Einfluß der Schule und der Kindertagesbetreuung erheblich. Ich beschränke mich in meiner Untersuchung auf das Lesen im Lebenslauf, um einen mit Normen und Tradierungen verbundenen Bereich der Mediennutzung detalliert zu betrachten.

Die Erinnerungen zur persönlichen Lesebiographie wurden von mir herangezogen, um Einflüsse auf die Lesesozialisation zu identifizieren und zu benennen. Lebensalterspezifische Wendepunkte im Lebenslauf werden daraufhin untersucht, ob womöglich gerade sie eine Änderung im Leseverhalten auslösten.

Ebenso wie die Nutzung, das Image und die Bedeutung von Büchern, hat sich auch das Verständnis von Bildung verändert, das infolge eines gesellschaftlichen Wertewandels nicht mehr allein mit humanistischer Bildung gleichgesetzt, sondern als Wissen auch in anderen Bereichen - z.B. technischen - gesellschaftlich anerkannt wird.

Ganz gleich, ob es sich um die Kolportageromane des späten 19. Jahrhunderts, die Kinofilme in den 20er Jahren oder die Comics in den 50er Jahren dieses Jahrhunderts handelte: Stets richtete sich das Augenmerk von Kritikern und Pädagogen vor allem darauf, welche Auswirkungen diese Medien auf Kinder und Jugendliche hatten - oder haben könnten. Innerhalb der Medienwirkungsforschung, die ihre Wurzeln auch in der Aufklärung und in der Volkspädagogik hat, nimmt das Studium des Medienkonsums von Heranwachsenden bis heute eine überragende Stellung ein. So beherrschte über Jahrzehnte hinweg die Frage nach den sozialen Folgen von medial dargestellter Gewalt die wissenschaftliche Diskussion.

Die Resultate quantitativer und vereinzelt qualitativer Studien zur Lese(r)forschung ermöglichten im letzten Jahrzehnt vielfache Einblicke in das Leseverhalten der bundesrepublikanischen Bevölkerung aller Altersstufen. Immer wieder wurde die Bedeutung der Lesefertigkeit sowohl für die Persönlichkeitsentwicklung als auch für die Chancen auf dem Arbeitsmarkt hervorgehoben. Einhellig gelangen alle jüngeren Studien zu dem Ergebnis, daß vor allem die Familie und erst dann die Schulen für die Lesesozialisation verantwortlich zeichnen.[4] )

Um die angesprochenen Veränderungen sowohl lebenslaufbezogen als auch in unterschiedlichen gesellschaftlichen Zeitkontexten fassen zu können, frage ich nicht nur nach dem Leser schlechthin, sondern nach dem Stellenwert des Lesens und den jeweiligen Zusammenhängen der Mediennutzung in der individuellen Biographie, im Leben dreier Lesergenerationen. Eine rein quantitative Forschung kann hier lediglich bereits existierendes Untersuchungsmaterial ergänzen, deshalb zog ich die methodische Konsequenz qualitativ vorzugehen. Hierzu wählte ich die Methode des Interviews, fokussiert auf die Bedeutung des Lesens im Lebenslauf. Von Interesse für mich war sowohl das "Wie" der Medienrezeption als auch das "Warum" bzw. die Intention, die der Mediennutzung und insbesondere dem Lesen zugrundeliegt.

Zur Bestätigung oder Widerlegung meiner Hypothesen führte ich Interviews mit 60 Frauen und Männern zwischen 25 und 75 Jahren durch.

Bei einem, 1992 den Interviews vorangestellten, "Pretest" erhielt ich von 100 ausgegebenen standardisierten Fragebögen ebenfalls gut 60 zurück, deren Aufbau weitgehend dem späteren Interview-Leitfaden entsprach. Außerdem führte ich 1990 und 1993 jeweils Befragungen mittels eines standardisierten Fragebogens mit Eltern von Kindern im Kindergarten- und Vorschulalter durch, um Aussagen darüber machen zu können, wie bewußt Eltern heute die Beschäftigung ihrer Kinder mit den Medien und speziell dem Buch fördern und welchen Stellenwert sie der Lesesozialisation beimessen. Die Ergebnisse dieser vorausgegangenen Untersuchung fließen in die vorliegende Arbeit ein.

In der Analyse der Interviews wird deutlich, wie stark das Lesen einerseits ein ganz persönliches, durch den Lebenslauf und die Lesesozialisation geprägtes Phänomen ist, das während des Lebens seine Funktion und Intensität verändert. Andererseits lassen sich zugleich aber generations- und geschlechtsspezifische Gemeinsamkeiten respektive Unterschiede erkennen. Auf der Basis der Interviews möchte ich außerdem möglicherweise versteckte, lebensalterspezifische Knotenpunkte des Leseverhaltens aufspüren.

Meine Arbeit ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil gehe ich auf die bisherigen Forschungen ein und zeichne die historischen Linien der Entwicklung des Lesens nach. Außerdem werden die bisherigen Ansätze,

Leser und das Lesen zu typisieren und definieren, vorgestellt; ferner gehe ich auf die mit Lesen verbundenen Stereotypen ein und gebe einen Überblick über das Lesen im heutigen medialen Kontext. Auch die Problematik der Analphabeten wird kurz angesprochen.

Um die Orientierung zu erleichtern und einen Erklärungsansatz für die Ausrichtungen und Wirkungsmöglichkeiten der Lesesozialisation zu schaffen, gebe ich in Kapitel II. eine Übersicht über die Entwicklungen und Ziele der Leseförderung der Nachkriegszeit - mit dem Schwerpunkt auf den letzten 15 Jahren. Den zweiten Abschnitt dieser Arbeit bildet der empirisch-analytische Teil (Kapitel III. bis VI.). Um Erläuterungen dort zu geben, wo sie erforderlich sind, habe ich auf eine weitere Trennung der theoretischen Ausführungen von der Interpretation der Interviews verzichtet und sie jeweils themenzentriert den empirischen Untersuchungen vorangestellt. Die deskriptiven Abschnitte, die den Belegen aus den Interviews und der Interpretation voranstehen, sollen Basisinformationen bereitstellen, die einen Bezug zwischen der Analyse der lebensgeschichtlichen Aussagen und den Anforderungen bzw. Erwartungen an eine effektive Lesesozialisation ermöglichen.

Die Analyse der Aussagen selbst erfolgt anschließend anhand der Kombination von Interpretation und Belegbeispielen aus den Interviews.

Die vorliegende Arbeit soll als Bedingungs- und Ursachenforschung, nicht als Wirkungsforschung verstanden werden. Die Verbindung von Inhaltsanalyse und empirischer, problemorientierter Aufbereitung des Forschungsgegenstandes bietet die Möglichkeit, Theorie und Praxis miteinander zu verschränken. Die Verwendung unterschiedlicher Quellen ermöglicht die Präsentation der Resultate auf verschiedenen Darstellungsebenen.

Die Funktionen des Lesens und die Nutzung der im weiteren zur Verfügung stehenden Medien haben während der letzten 50 Jahre eine starke Wandlung erfahren. Ziel meiner Untersuchung ist es, zu ergründen, welche Bedeutung diese Wandlung der Mediennutzungsgewohnheiten für das Lesen in den Lebensläufen der Angehörigen der drei von mir so genannten "Lesergenerationen" hat. Wie das Lesen seinen "Sitz im Leben" und damit im Lebenslauf zugewiesen bekommt und in welchem Umfang es praktiziert wird, das soll anhand der Analyse näher betrachtet werden.

[1])Marshal McLuhan: Die Gutenberg Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf 1968; Neil Postman: Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt/M. 1983; Ders.: Wir amüsieren uns zu Tode. Frankfurt/M. 1985; Ders.: Die Bedrohung des Lesens durch die elektronischen Medien - und was die Verleger dagegen tun können. In: Franzmann (Hrsg.): Auf den Schultern von Gutenberg. Berlin und München 1995.

[2])Vgl. Lesesozialisation. Band 1 und 2. Gütersloh 1993; Franzmann wie Anm.1.

[3])Vgl. hierzu auch Carola Lipp, die wie folgt ausführt: "Im Sinne Bourdieus bedarf die 'Welt des Alltagsverstandes' eines subjektiven Systems dauerhafter, übertragbarer, verinnerlichter Strukturen, Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die das geschichtliche Ergebnis alltäglicher Erfahrung und Handlung sind und damit Ausdruck inkorporierter, objektiver Struktur". Dies.: Alltagskulturforschung im Grenzbereich von Volkskunde, Soziologie und Geschichte. In: ZfVk 1/1993. S.1-33, hier S.25. Sie verweist desweiteren darauf, daß diese verinnerlichten Regelsysteme, die Bourdieu "Habitus" nennt, allen Mitgliedern einer Gruppe gemein sind, d.h. sie ermöglichen es ihnen, sich in der gesellschaftlichen Praxis symbolisch gegenüber anderen zu äußern und verstanden zu werden. In der vorliegenden Arbeit soll das internalisierte Lesen auch als "habitualisiertes" Lesen angesehen werden.

[4])Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird noch näher auf diese Studien eingegangen.