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Schlußbetrachtung: Lesesozialisation und Lesen im Lebenslauf

Die Untersuchung des Lesens im Lebenslauf dreier Lesegenerationen zeigt, daß dem Lesen als sozialem Handeln in den einzelnen Lebensphasen eine unterschiedliche Gewichtung zukommt. Innerhalb der großen Vielfalt des Lesens im Lebenslauf ergeben sich generationsspezifische Besonderheiten wie auch generationsübergreifende Phänomene. Diese lassen darauf schließen, daß Art und Intensität des individuellen Leseverhaltens von persönlichen (inneren) und gesellschaftlichen (äußeren) Einflüssen bestimmt sind, wobei die äußeren Einflüsse je nach Lebensalter weitgehend von den verantwortlichen Sozialisationsinstanzen, wie vor allem der Familie und der Schule, bestimmt werden. Lesesozialisation und Leseverhalten sind ebenfalls stark geschlechtsspezifisch geprägt, was sich sowohl in der Motivation, in der Art und Häufigkeit des Lesens als auch in der Lesestoffwahl ausdrückt.

Blickt man auf die Funktionen des Lesens, so zeigt sich, daß diese weniger generationsabhängig als vielmehr geschlechtspezifisch variieren. Im Lesealltag ist die jeweilige Art des Lesens an der gewünschten Funktion ausgerichtet, mit der auch die Wahl des Lesestoffes korreliert.

Anhand der Divergenz der Lese- und Leserdefinitionen wird außerdem deutlich, wie problematisch eine klare Eingrenzung des Phänomens Lesesozialisation ist. Zumindest liegt allen Lese-Definitionen zugrunde, daß die Lesekompetenz den Rezipienten befähigt, schriftlich fixierte Zusammenhänge zu erfassen, gedruckten Medien in vielfältiger Weise Informationen zu entnehmen und diese Fähigkeit erfolgreich in das Berufs- und Alltagsleben zu integrieren.

Die in dieser Arbeit eingangs vorgestellten Untersuchungen zur Lese(r)forschung reichen m.E. als Erklärungsansätze für einen Wandel der Lesesozialisation in den letzten 50 Jahren nicht aus. Statt quantitativer Verfahren benutze ich deshalb für die vorliegende Untersuchung eine qualitative Methode. Mit der Datenerhebung durch fokussierte Interviews lassen sich die Leseentwicklung und Lesegewohnheiten in individuellen Lebensläufen ergründen.

Der Vorbildcharakter von Eltern und älteren Geschwistern ist prägend für die Entwicklung des späteren Mediennutzungs- und damit auch Leseverhaltens von Kindern und Jugendlichen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu berücksichtigen, daß auf der Ebene der Mediennutzung modifizierte mediale Kontexte auch für die Elterngenerationen Veränderungen des eigenen Mediengebrauchs beinhalten. Sie wollen ihren Kindern also häufig den Umgang mit etwas vermitteln, das auch sie sich erst allmählich aneignen mußten.

Der Leser beabsichtigt, durch die Lektüre bestimmte individuelle Bedürfnisse zu befriedigen, die nicht zuletzt durch die Erziehung und die Lesesozialisation geweckt und geprägt werden. In dieser erfährt das Individuum zunächst das, was ihm vorgelebt und gezeigt wird, z.B. wie und zu welchen Anlässen ein Buch oder andere Printmedien eingesetzt werden können, welcher Nutzen aus ihrem Gebrauch gezogen werden kann. Der Einsatz des jeweiligen Mediums wird bereits in der Familie aktiv (Vorlesen) und passiv (Vorbildfunktion durch die Eltern) vermittelt.

Grundsätzlich ist eine starke Abhängigkeit der Kinder und Jugendlichen vom kulturellen Klima in den Familien festzustellen. Heute werden jedoch an viele Kinder von den begleitenden außerfamiliären Institutionen weitere, häufig ergänzend wirkende Formen der Lese- und auch Mediensozialisation herangetragen. Für Kinder aus anregungsarmen Familien bieten sich hier Entwicklungschancen, die den meisten meiner Informanten der ersten und frühen zweiten Generation nicht zur Verfügung standen.

In den Gesprächen mit der dritten Generation ergibt es sich häufig, daß diese jüngeren Leser viel selbstverständlicher mit dem heute umfangreichen Medienensemble umgehen als die Generation ihrer Eltern (zum Teil Befragte der ersten Generation). Für sie stellen die elektronischen Medien weniger eine Substituierung der Lesemedien dar, als eine zeitgemäße Erweiterung und Bereicherung des gesamten Medienangebotes. Es finden sich aber auch in der dritten Generation leidenschaftliche Leser, die ein Buch der Rezeption anderer Medien vorziehen.

Häufiger als zunächst von mir vermutet, kristallisiert sich ein intensives Leseverhalten heraus, das von der individuellen familiären Konstellation her unerwartet ist, aber offensichtlich in spezifischen Kindheitserlebnissen gründet. Diese Tatsache erlaubt den Schluß, daß eine lesedeterminierte Persönlichkeit ein wesentlicher Schlüssel zum pädagogischen Erfolg oder Mißerfolg der Lesesozialisation ist. Die Lesedeterminanten sind in der individuellen Biographie verankert, z.B. als Schlüsselerlebnisse in der Kindheit oder als besondere Lebensumstände, wie sie unter anderem ein vorlesefreudiges Elternhaus, eine engagierte Lehrerin oder der freie Zugang zu großen Bücherbeständen boten.

Deutlich ablesbar in den Ergebnissen der Analyse ist ferner die Tatsache, daß die "offizielle" Lesesozialisation bei weitem nicht so stringent verläuft, wie es die theoretischen Ideal-Konzepte (z.B. in den Curricula) vorgeben respektive die Arbeitsansätze der lesefördernden und -sozialisierenden Institutionen anstreben.

Lesen als soziales Handeln wird im Lebenslauf zweckorientiert eingesetzt und praktiziert. Es steht dabei in enger Verbindung mit den persönlichen Empfindungen, da Lesen in die Gefühlswelt der Leser hineinspielt. Andererseits betrifft es durch die notwendige bewußte Zeitplanung auch organisatorische Bereiche. Je nach Lebenslaufphase verdichtet sich die eine oder andere Präferenz in der Nutzung und prägt sich stärker aus.

Bisherige Charakterisierungen und Definitionen der Lesertypen sind häufig an den Entwürfen von Leserentwicklung orientiert. Diese wiederum rekurrieren auf Inhalte des Lesestoffes und nicht auf die Persönlichkeit und durchlebte Lesesozialisation der Leser, die sich ihre Lesestoffe im individuellen Textverarbeitungsprozeß - dem Lesen - aneignen. Da aber ein und derselbe Inhalt bei unterschiedlichen Lesern eine Vielfalt an Wirkungen auslöst, sind Lesertypen anhand von Lesestoffen nur sehr unscharf zu definieren.

In der vorliegenden Arbeit dagegen ergibt sich die Typisierung der Leser weniger über die Lesestoffe als vielmehr aus der Funktion heraus, die dem Lesen zugrunde liegt. Identischen Funktionen werden dabei je nach Lebensphase variierende Bedeutungen für die Lebensgestaltung der Leser eingeräumt. Abhängig von der Intensität der relativ früh einsetzenden Prägungen weist der Leser dem Lesen bestimmte Funktionen zu, wie z.B. die der Unterhaltung oder Wissensaneignung. Diese bleiben in ihren Grundstrukturen lebenslang wirksam, sind aber weder starr noch unveränderbar. Sie variieren nicht nur mit dem Ziel, das der Leser mit der jeweiligen Lektüre verfolgt, sondern auch im weiteren Verlauf des Lebens. So formen sich in den einzelnen Phasen des Lebenslaufs, wie Kindheit, Jugend, Berufseintritt oder Familiengründung, je nach Intensität der Lesesozialisation unterschiedliche Funktionen mit divergierenden Einsatz- und Nutzungsformen aus. Interessanterweise ist das Repertoire dieser Funktionen und ihr Einsatz bis auf die Ausnahme der Weiterbildung als generationsübergreifend zu bezeichnen.

Die von mir herausgearbeiteten späten und unerwarteten Leser verweisen auf dieses Phänomen. Sie wären in ihrer Jugend der Gruppe der Nicht-Leser zugeordnet worden, zeigen aber als Erwachsene mit breitem Lesespektrum nahezu alle Leseintentionen. Es fällt ihnen häufig schwer, das Lesen von längeren Texten und Büchern kontinuierlich in ihr Leben und ihre Zeitgestaltung einzubeziehen. Wie alle anderen Leser sind sie zur Realisierung ihrer Leseabsichten auf kompakte freie Zeitblöcke angewiesen. Im Gegensatz zu den bereits früh als passioniert oder gewohnheitsmäßig zu bezeichnenden Lesern, suchen sie zum Teil lebenslang für sich nach den geeigneten Lesestoffen. Oft wechseln sie beim Lesen Themen und Genre der Bücher. Dies basiert nicht zuletzt darauf, daß sie als Kinder den Genuß eines fast suchtartigen Fortsetzungsleseens und das damit verbundene anhaltende Eintauchen und geistige Entschwinden in die Welt der Bücher und Geschichten nicht kennengelernt und auch keine frühe Lesekontinuität ausgebildet haben. Gerade diese Leser reproduzieren häufig die gängigen Stereotypen und Auffassungen zum Lesen. Alle "späten und unerwarteten Leser" unter meinen Befragten haben für ihre eigenen Kinder konkrete Zielvorstellungen dessen, was in der Lesesozialisation erreicht werden solle. Diese Intentionen unterscheiden sich damit gravierend von ihren eigenen Erfahrungen in der Lesesozialisation. Sie vertreten außerdem viel stärker als die gewohnheitsmäßigen, routinierten Leser die Auffassung, über das Lesen bestimmter Texte auch Tradierungen weitergeben zu können.

In diesem Zusammenhang sei ferner auf die Leser und Informanten der ersten Generation verwiesen, die in ihrer Wertschätzung des Lesens, vor allem auch von anspruchsvollen literarischen, klassischen Texten, eine Ausnahme darstellen, indem sie nach wie vor das klassische Bildungsideal von "Belesenheit" und die Wertschätzung von Bildung durch das Lesen reproduzieren. Sie bemühen sich ebenso wie die späten und unerwarteten Leser, dies ihren Kindern in der Lesesozialisation entsprechend zu vermitteln, haben dazu allerdings die besseren Ausgangsbedingungen, da ihnen der Umgang und die Grundbedingungen der Lesesozialisation durch das elterliche und familiäre Vorbild vertraut waren. Die späten und unerwarteten Leser müssen diesbezüglich bei der Sozialisation ihrer eigenen Kinder stärker "improvisieren". Das Bewußtsein dieser Leser für die Umstände und Notwendigkeiten einer vielseitigen Lesesozialisation ist allerdings zugleich sehr sensibel, obwohl sie selbst sie nur teilweise oder rudimentär erfahren haben. Häufig erwähnen diese Menschen mit Bedauern, "daß ihnen nicht vorgelesen wurde", "daß man für sie die falschen Bücher" ausgesucht habe"; "daß man sich nicht bemühte herauszufinden, was das Richtige gewesen wäre".

Der Autor Peter Bichsel schreibt hierzu in seinen Leseerinnerungen: "Ich muß als Kind auch Kinderbücher besessen haben. Man hat ja als Kind keine Möglichkeit, dem Geschmack alter geschenkfreudiger Tanten auszuweichen. Ich erinnere mich nur noch ganz schwach an jene Bücher. Meine Tanten haben mir offensichtlich all jene Bücher geschenkt, die ihnen so halbwegs gefielen: entweder weil ihnen Bücher nichts sagten oder weil sie überzeugt waren, daß ich für alles, was ihnen gefiel zu jung war. Oft legten sie es scheinbar sogar darauf an, mich zu beleidigen. Sie schenkten mir Bücher, die nach ihrer Meinung der Welt des Kindes entsprachen. In dieser Welt lebte ich aber sowenig wie alle anderen Kinder. Die Welt des Kindes ist eine anmaßende Vorstellung der Erwachsenen; sie meinen damit die Welt des Niedlichen, des Harmlosen, des Ungefährlichen. Was mich interessierte war nicht die Welt des Kindes, sondern ganz einfach die Welt."

Dieses kindliche Leseinteresse, das Kinder dazu veranlaßt, einfach "mehr" erfahren zu wollen, fand sich nicht in allen Aussagen. Manche Gewährspersonen bleiben dem faszinierten Lesen ganzer Buchreihen verhaftet und setzten diese Art des Lesens auch als Erwachsene fort - z.B. in der regelmäßigen Lektüre von Heftromanen oder Zeitschriften.

Die Funktionen und Bedeutungen des Lesen lassen sich klar in solche trennen, die auf den persönlichen Bedürfnissen in einzelnen Lebensphasen beruhen, wie z.B. der Rückzug aus einer angespannten familiären Atmosphäre. Andere Funktionen, wie die der Unterhaltung oder der Notwendigkeit sich zu informieren, sind offensichtlich nicht nur an die individuelle Disposition des Lesers gebunden.

Betrachtet man die Funktionen, die das Lesen für einzelne Mitglieder einer Familie haben kann, so fällt besonders die Ambivalenz dieser Kulturtechnik auf: Lesen wirkt sowohl verbindend als auch ausgrenzend. Verbindungen werden geschaffen über den Austausch von Lektüren, durch Gespräche über Bücher oder Rezensionen. Mehrere Mütter aus der ersten Generation betonen die Anregungen, die sie von ihren jugendlichen und erwachsenen Kindern erhielten, dagegen werden die Väter im Zusammenhang mit literarischen Anregungen in allen Generationen selten genannt. Exponiert sich ein Familienmitglied mit seinen Leseinteressen, so kann Ausgrenzung die Folge sein.

Bedürfnisse, die mit dem Lesen befriedigt werden, und die Funktionen, die das Lesen erfüllen soll, sind weitgehend homogen. Als Ausnahme ist in der ersten Generation eine verstärkte Zuwendung zur klassischen Literatur zu verzeichnen und damit - der Auffassung der Leser nach - zu "literarisch wertvollen" Texten, die sie nicht nur zur Erbauung, sondern auch mit der Absicht lasen, Sprache und Geist zu formen. Die Aussagen der zweiten und dritten Generation verweisen auf das Phänomen, daß "Belesenheit" als qualifizierendes Merkmal, als persönlichkeitsstärkendes, prestigeförderndes Kennzeichen an Bedeutung verliert. Die Intention, sich in höhere Bildungsschichten "hinaufzulesen" oder das Sprachempfinden zu schulen, gaben die jüngsten Befragten in diesem Sinne nicht mehr an, obwohl auch sie zum Teil literarisch anspruchsvolle Texte bevorzugen. Daß ältere Informanten deutlich stärkere Ambitionen zur Selbstschulung zeigen, hat sicher auch darin seine Ursache, daß sie mit der Wert-Konnotation des "guten Buches" aufwuchsen und zugleich die Notwendigkeit empfanden, kriegs- und kriegsfolgebedingte Defizite ihrer Lesesozialisation auszugleichen. Einige der älteren Befragten strukturieren sogar ihre gesamte Lesebiographie unter dem Blickwinkel ihres allmählich wachsenden Buchbesitzes oder anhand der von ihnen gelesenen Literatur. "Belesenheit" wird so dokumentiert und visualisiert. Auch Schilderungen der eventuellen Wandlungen ihres Lesegeschmacks sollen ein "Hinauflesen" in literarisch bzw. gesellschaftlich höhere Ebenen suggerieren. Für diesen Personenkreis symbolisieren Buchbesitz und Belesenheit noch immer die Zugehörigkeit zu einer gebildeten, und damit sozial und gesellschaftlich prestigetragenden Schicht.

Kinder und Jugendliche lasen und lesen - außer zu Schulzwecken - generell freiwillig: um sich zu unterhalten, zu informieren, abzulenken oder sich zurückzuziehen durch den Genuß völligen Versinkens in eine andere Welt. Zentral für dieses Lesen sind nicht immer unbedingt die Lesestoffe selbst, sondern vielmehr die Gelegenheit, sich völlig losgelöst von anderen Verpflichtungen mit den Inhalten der Texte identifizieren zu können. Oftmals handelt es sich um ein Mittel zur Zeitüberbrückung.

Gerade im Kindes- und frühen Jugendalter gleicht das Lesen zeitweilig einem "Verschlingen" von Buchserien. Dabei ist offensichtlich der "Akt des Lesens" wichtig, die Möglichkeit des Rückzugs. Unterhaltung impliziert die Möglichkeit, sich auf angenehme Art und Weise zurückzuziehen, sich zu besinnen, sich von der realen Welt ablenken zu lassen und neue Welten zu entdecken. Das Vergnügen und Entspannende beim Lesen entsteht, indem gewohnte vertraute Mechanismen immer wieder ablaufen. Die benötigten Mengen an Lesestoff liefern dabei vielfach die öffentlichen Büchereien. Die Mehrheit der Befragten aller drei Generationen erlebte als ältere Jugendliche eine Umbruchphase ihres Leseverhaltens. Diese "Umstrukturierung" im privaten Lesen in der Pubertät wird begleitet von veränderten Freizeitinteressen, die sich zunächst eher einschränkend auf das Lesequantum auswirkten.

Eine weitere zentrale Funktion, für die das Lesen eingesetzt wird, ist die der Information. Gerade Menschen, die nicht regelmäßig oder länger Bücher zur Unterhaltung lesen, geben an, sich aus Büchern zu informieren und weiterzubilden. Besonders nicht habitualisierte und unerwartete Leser betonen die Möglichkeit der Informationsbeschaffung z. B. anhand von Nachschlagewerken und legen Wert darauf, den eigenen Kindern das Medium Buch in dieser Funktion nahezubringen. Das individuelle Blättern, der beliebige, völlig selbstbestimmte Umgang mit einem Buch oder einem Lexikon, die Möglichkeit, sich von Stichwort zu Stichwort "weiterzulesen", wird hier besonders betont und als positiver Effekt herausgestellt. Auch die Reisevorbereitung zählt hierzu.

Die Bedeutung, der Einsatz und die Intensität des Lesens verändern sich während des Lebenslaufs.

Ausgelöst werden solche Veränderungen z.B. durch den Eintritt in die Berufsausbildung oder höhere Schulklassen, wenn sich das individuelle Zeitbudget verengt und weniger Freiräume für das Lesen verfügbar sind. Besonders Leser, die festumrissene Qualitätsansprüche an die Umstände und zeitlichen Konstellationen ihres Lesens stellen, schildern die veränderten Zeitstrukturen als eine starke Einschränkung, derentwegen sie ihre Leseintention oft reduzieren oder gezielt verlagern mußten. Das spontane, aber doch intensive Lesen der Kindheit und Jugend verliert sich zugunsten eines rationalisierten, bewußten Lesens. Gelegenheit zu unbeschwertem Lesen stellen dann nur noch längere freie Zeiten, wie Urlaub oder lange Wochenenden dar. So prägen nicht nur die Funktionen, denen das Lesen dienen soll, sondern auch das individuell verfügbare Zeitbudget das Leseverhalten. Steigende Anforderungen in Familienleben und Beruf mindern die Zeiten, in denen Muße und volle Konzentration für Texte zur Verfügung stehen.

Fast allen Befragten ließ die Berufsausbildung selten Zeit, um andere Genres als Fachliteratur zu lesen. Nur wirklich begeisterte Leser erhielten sich ihr Faible für die Lektüre von Büchern und empfanden ihr Lesen über die anfallende Pflichtlektüre hinaus nicht als Belastung. Daß trotzdem von vielen ein latent existierendes Verlangen nach intensiverem oder häufigerem Lesen genannt wird, ist ein Indiz dafür, daß in der Kindheit und Jugend internalisiertes und habitualisiertes Lesen lebensbegleitend einen vorrangigen Stellenwert im persönlichen Bewußtsein und im Umgang mit Medien behält.

Freie Zeitkontingente werden besonders dann zur Realisierung intensiven Lesens genutzt, wenn die Gewährspersonen nicht, wie heute, auf zahlreiche andere Unterhaltungsmedien zurückgreifen konnten. Den "Luxus" z.B. des wiederholten Lesens von Büchern gestatten sich nur wenige erwachsene Leser - einerseits, weil ihre Zeitressourcen begrenzt, und andererseits, weil die Verlockung durch die unendlich scheinende Menge des noch Ungelesenen sehr groß ist. Als Wunschvorstellung formulieren einige der Befragten, daß sie gerne wieder so vertieft lesen können würden, wie in ihren Kindertagen. Offensichtlich aber gelingt dieses "Versinken" den erwachsenen Lesern nur noch, wenn bestimmte Ansprüche und Voraussetzungen erfüllt sind, die ich als "Qualität der Lesezeit " bezeichne: Muße, Ruhe, freiwillig gewählte Lesestoffe. Da diese "Qualität" der Lesezeit aber durch die Einbindung in Beruf, Familie und Freundeskreis in besonders aktiven Lebensphasen rar ist, bleiben derartige Leseerlebnisse für manche ehemals passionierte Vielleser Fiktion. Der erhöhte Qualitätsanspruch an die knappere Lesezeit korreliert außerdem oft mit einer größeren Wertschätzung der Qualität. Diese Qualität wird nicht allein von literarischen Inhalten bestimmt, sondern ist - gerade für viele männliche Leser - vom jeweiligen Informationsgrad, Unterhaltungs- oder Spannungswert abhängig.

Lesen im Lebenslauf verändert und gestaltet sich im Laufe der persönlichen Biographie unter gewandelten gesellschaftlichen Kontexten neu aus. Das Lesen in der Kindheit und Jugend hat andere Funktionen, Qualitäten und Schwerpunkte als das Lesen in der Lebensmitte oder im Alter. Trotz Brüchen zwischen den verschiedenen Lebensabschnitten gibt es "hinübergerettete" Intentionen, in denen die Zuneigung und der Zugang zur Literatur, die Determination als Buchleser, deutlich hervortritt.

Die Belege zu den einzelnen Themenbereichen zeigten augenfällig, daß das Lesen ein Phänomen ist, das mit unterschiedlichsten Bereichen der Gesamtbiographie eng verwoben ist. Wenn aus der Interpretation und Analyse auch stets zum Ausdruck kommt, daß es sich dabei um jeweils subjektive Erfahrungen von Lebenszeit handelt, lassen sich dennoch Gemeinsamkeiten sowohl innerhalb der einzelnen Lesergenerationen als auch generationsübergreifend klar erkennen.

Das Lesen und seine Vermittlung stellen sich dabei als Strukturzusammenhang dar, dessen einzelne Komponenten von den "Stationen" der Lesesozialisation gebildet werden. Diese reichen so von der Anregung des Kindes in der Familie über die absolvierten Schuljahre - die formale Bildung - bis hin zu den Wahlmöglichkeiten des angestrebten Berufes und den Formen der persönlichen und beruflichen Weiterbildung, der Gestaltung der Freizeit, der Etablierung des Lesens und der weiteren - auch geschlechtsspezifisch geprägten - Mediennutzung im späteren Leben. Die den Lesebiographien zugrunde liegenden subjektiven Erfahrungen spiegeln sich im Erinnern an das Durchlaufen dieser "Stationen" der Lesesozialisation.

Weitere Diffenrenzierungen sind anhand der Leitlinien vorzunehmen, denen die Erinnerungen folgen. Für die Kindheit bezogen sich diese z.B. auf die Art der Zuwendung von den Eltern oder anderen Bezugspersonen. Die Rückblicke auf die Schule waren primär von den Lehrerpersönlichkeiten, den Schwierigkeiten des Erstleseunterrichts und den Anregungen oder Hemnissen in den höheren Schulklassen gekennzeichnet.

Die Lesebiographie erweist sich als individuelle Erfahrung und zugleich als Ausschnitt persönlicher und allgemeiner Familien-, Schul- und Lebensgeschichte sowie der Aneignung kultureller Angebote unterschiedlicher Gesellschaftsformen. Letztendlich ist die Bedeutung von Lesen im Lebenslauf ein Element des sozialen und kulturellen Wandels und seines Einflußes auf die Persönlichkeit. Gerade am Beispiel des Lesens im Lebenslauf sind soziale, ökonomische und kulturelle Wandlungen nachvollziehbar. In den persönlichen Schilderungen wird deutlich, daß und wie der Stellenwert des Lesens in der Gesellschaft sich bereits verändert hat, respektive in seinen Anwendungsweisen variiert und angepaßt wird.

Zu erwarten steht, daß die modernen Techniken wie das Internet sich auf die Nutzung gebundener Printmedien auswirken und eventuell ein Leseverhalten ganz neuer Konvenienz mit sich bringen. Das Beobachten der Veränderung dieser Kulturtechnik - und nicht die Beschwörung ihres Niedergangs - wird einer empirischen Kulturwissenschaft wie der Volkskunde weiterhin spannende und wichtige Forschungsfragen liefern.