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Deutsch-russische Wissenschaftsbeziehungen
St. Petersburg, die glanzvolle Metropole, das wissenschaftliche und kulturelle Zentrum des Russischen Reiches, suchte seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verstärkt den Kontakt zur Göttinger Universität - und stieß sofort auf ein reges Gegeninteresse. Was machte gerade Göttingen für St. Petersburg und Russland, was St. Petersburg und Russland für Göttingen so interessant?
Die Zweite Kamtschatka-Expedition 1733-1743
Forschungssendungen nach Göttingen
Zeitliche und ideengeschichtliche Parallelen
Das Erstehen und der rasche Aufbau der Newa-Metropole und die Gründung der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften 1725 geschahen aus dem gleichen Ansporn heraus, aus dem auch in Göttingen die Georgia Augusta 1734 und die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften 1751 geschaffen worden waren: aus dem Geiste der Aufklärung. Diese zeitlichen und ideengeschichtlichen Parallelen schufen eine besondere gegenseitige Wahrnehmung.
Die Göttinger Universität - ein internationales Erfolgsmodell
1734 bestimmte Kurfürst Georg August von Hannover, als Georg II. zugleich König von Großbritannien und Irland, die Gründung einer Landesuniversität in Göttingen. Die nach ihm benannte Georgia Augusta wurde 1737 feierlich eingeweiht. Ihr Kurator Gerlach Adolph von Münchhausen (1688-1770) verlieh ihr im Laufe seiner fast vierzigjährigen Amtszeit ihre prägenden Züge. Früh begriff er, dass die bestehenden Universitäten wegen ihrer rückständigen Verfassungen, der Bindung an das Primat der Theologie und veralteter Lehrformen nicht mehr den Bedürfnissen der Zeit entsprachen. Nach dem Vorbild der Universität Halle konzipierte Münchhausen daher umfassende Reformstrategien. Er schaffte das Primat der Theologie ab und führte eine Gleichberechtigung der Fakultäten ein, erteilte der Lehraufsicht und Zensur eine Absage und ermöglichte stattdessen eine freie Lehre und Forschung. Dank der geschickten Personalpolitik Münchhausens wurden arbeitsame, rational und praktisch veranlagte Professoren und bald auch berühmte Gelehrte nach Göttingen berufen. Sie führten einen modernen akademischen Unterricht, indem sie ihre Lehre aus der aktuellen Forschung ableiteten und ihren praktischen Anwendungsbezug garantierten.
Kollegienhaus und PaulinerkircheWenige Jahrzehnte nach ihrer Gründung konnte die Georgia Augusta auf eine wohl einmalige Erfolgsgeschichte zurückblicken. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erlebte sie den ersten und bedeutendsten Höhepunkt ihrer Entwicklung. In dieser Zeit war sie mit fast 1000 Studierenden aus dem In- und Ausland nicht nur zur größten, sondern auch zur führenden und modernsten Hochschule des alten Reiches aufgestiegen und wurde Vorbild für viele andere Universitäten. Die Königliche Universitätsbibliothek war in der fast fünfzigjährigen Amtszeit ihres Direktors Christian Gottlob Heyne (1729-1812) eine benutzerfreundliche Institution geworden, die etwa 133.000 Bücher besaß und damit eine der bedeutendsten Bibliotheken Europas war. Mit etwa 9000 Werken in slawischen Sprachen und über slawische Angelegenheiten, darunter überwiegend Russica, war der Slavica-Bestand der Bibliothek im deutschen Sprachraum einzigartig. Einen wesentlichen Teil dieses Bestandes verdankte die Bibliothek großzügigen Schenkungen des Barons Georg Thomas von Asch (1729-1807).
An der Georgia Augusta wurden zukunftsträchtige und anwendungsbezogene Disziplinen wie Ökonomie, Rechts- und Staatswissenschaften und praktische Medizin unterrichtet, eine historisch-kritische Geschichtswissenschaft und Philologie und eine empirische Naturforschung betrieben. Gerade dieser letzte Bereich führte gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem zweiten universitätsgeschichtlichen Höhepunkt.
Die KunstkammerRussland - eine aufstrebende Wissenschaftsnation
Ein vielfältiger Austausch mit Westeuropa hatte eine rasche Blüte der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften zur Folge. Die Kontakte der Georgia Augusta mit der Akademie und mit weiteren entstehenden russischen wissenschaftlichen Einrichtungen eröffneten den Göttinger Gelehrten eine Vielzahl neuer Beziehungen
und Betätigungsfelder. Gestützt wurde ihr Interesse nicht zuletzt durch die europaweite Begeisterung für Peter den Großen und für sein Reformwerk, für Katharina die Große und für ihre Modernisierungsbestrebungen des Russischen Reiches.St. Petersburg und Göttingen in der internationalen "Gelehrtenrepublik"
Das Interesse St. Petersburgs bzw. Russlands und Göttingens aneinander manifestierte sich rasch in einer Vielzahl intensiver Kontakte. Göttingen wurde damit zu einem wichtigen Knotenpunkt der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen und der gesamteuropäischen "Gelehrtenrepublik" überhaupt. Das Gerüst dieses Beziehungssystems bildeten die Universitäten, Akademien und andere wissenschaftliche Gesellschaften. Die Gelehrten traten in Kontakt, um einander über neue Kenntnisse zu informieren, um gemeinsam wissenschaftliche Erkenntnisse zu entwickeln oder um einander in der wissenschaftlichen Laufbahn zu unterstützen. Erworbenes Wissen sollte über die Ländergrenzen bekannt gemacht, verbreitet, diskutiert und weiterentwickelt werden. Hinter diesem Bestreben stand der Gedanke einer großen didaktischen Mission: Die Menschheit sollte im Geiste der Aufklärung und des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts erzogen werden.Welche Formen von Beziehungen gab es?
Die Beziehungen zwischen St. Petersburg bzw. Russland sind vielfältig. Sie alle trugen wechselseitig zum Ausbau des russischen und des deutschen Bildungs- und Wissenschaftslebens bei:
1. Wechselseitige Berufungen von Gelehrten zu Mitgliedern der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften (GGW) und der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften (PAdW)Zwischen 1750 und 1809 wurden 33 Gelehrte und Staatsbeamte aus Russland zu auswärtigen Mitgliedern oder Ehrenmitgliedern der GGW gewählt. Im gleichen Zeitraum wurden sieben Göttinger Gelehrte zu auswärtigen Mitgliedern der PAdW ernannt. Viele weitere Göttinger Wissenschaftler wurden nach Russland berufen und dort häufig zu ordentlichen Mitgliedern der Akademie oder anderer gelehrter Gesellschaften ernannt. Diese Berufungen waren trotz abnehmender Zahlen auch im 19. Jahrhundert von Bedeutung. Sie erleichterten die Anbahnung von Beziehungen und die Kommunikation mit anderen Gesellschaftsmitgliedern. Den neuen Mitgliedern eröffnete sich ein Freiraum für Diskussionen und den Austausch neuer Ideen und Methoden.
2. Berufungen von Göttinger Gelehrten nach RusslandSeit der Mitte des 18. Jahrhunderts standen herausragende mit Göttingen verbundene Gelehrte in den Diensten der PAdW oder anderer wichtiger russischer Bildungsinstitutionen. Sie waren entweder direkt in St. Petersburg oder im Rahmen der großen wissenschaftlichen Forschungsexpeditionen der PadW an verschiedenen Orten des Russischen Reiches tätig. Im Zuge der Neugründung und Reorganisation der russischen Hochschulen zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Göttinger Wissenschaftler nach Moskau berufen. Ihr Wirken vermittelte vielen Disziplinen der russischen und der deutschen Wissenschaft neue wichtige Erkenntnisse und Impulse. Später gingen diese Berufungen zurück, da der vormals nur aus dem Ausland anzuwerbende wissenschaftliche Führungsnachwuchs nunmehr aus Russland selbst rekrutiert werden konnte.
3. Studienaufenthalte und Promotionen junger Russen an der Göttinger UniversitätSeit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Göttinger Universität zunehmend das Ziel russischer Studenten. Sie kamen entweder zum Kavaliersstudium oder wurden mit einem festen Studienauftrag an die Georgia Augusta "abgeordnet". Seinen Höhepunkt erreichte dieser Zustrom zwischen 1802 und 1812. Im SS 1806 etwa waren 40 russische Studenten in Göttingen immatrikuliert - gut 7% aller Studenten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ging diese Zahl zurück, da Russland nunmehr über eine Reihe eigener Universitäten verfügte und zudem andere deutsche Universitäten in Konkurrenz zur Georgia Augusta traten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren es vor allem Naturwissenschaftler, die es nach Göttingen zog. Grund hierfür waren die hervorragenden Bedingungen für ihr Fachgebiet.
Die "Göttinger Russen" wirkten später als bedeutende Schüler im Sinne ihrer Lehrer und verbreiteten in Russland das in Göttingen erworbene Wissen.
4. Briefkorrespondenzen und SendungenBriefkorrespondenzen waren im "schreibwütigen" 18. Jahrhundert und auch darüber hinaus die wohl wichtigste kontinuierliche Form der Pflege der gelehrten Beziehungen. Die Wissenschaftler tauschten aber nicht nur Briefe, sondern auch Forschungsmaterialien aus. Für Göttingen ist Baron Georg Thomas von Asch (1729-1807) von überragender Bedeutung: Der ehemalige Student aus Russland ist einer der größten Gönner der Georgia Augusta und bedachte sie mit einer Vielzahl wertvollster wissenschaftlicher Geschenksendungen.
Forschungssendungen nach Göttingen
Die Zweite Kamtschatka-Expedition 1733-1743Text: Silke Glitsch