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I. Lesen als Forschungsfeld

1. Lese(r)forschung und Forschungen zur Lesesozialisation

Unter historischen oder rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkten gab es immer wieder Forschungen, in denen die Zusammenhänge zwischen dem späteren Leseverhalten, dem individuellen Leseverständnis und der Lesesozialisation keine Berücksichtigung fand. Fragestellungen zu diesem Bereich ergaben sich erst in den empirisch ausgerichteten Forschungen der letzten zehn Jahren im Bemühen, die Verzahnung der einzelnen Lesesozialisations-Komponenten miteinander zu erhellen. Ausgehend von der historisch>


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t die Buchmarktforschung um das Verhalten und die Intentionen der Leser, zunächst ganz marktorientiert in der Absicht 1neue Zielgruppen zu erschließen. Als man Ende der 70er Jahre begann, das Lesen im Zusammenhang mit der gesamten Mediennutzung zu betrachten, wurden zunehmend kommunikations- bzw. publikationswissenschaftliche Untersuchungen initiiert. Die Loslösung von der klassischen Unterteilung in "gute" (literarisch anspruchsvolle) und "schlechte" (triviale) Literatur brachte erneut Bewegung in die Lese(r)forschung, die nun nicht länger allein die Rezeptionsforschung, sondern zunehmend auch die Literaturpsychologie interessierte.[1] )

Die volkskundlichen und sozialgeschichtliche Forschung vernachlässigte diesen Themenkomplex lange. Daher gibt es, bis auf vereinzelte Arbeiten aus den 70er Jahren[2] ), keine kontinuierlichen Forschungen zur Lesesozialisation unter volkskundlichen Aspekten, ebensowenig wie die Einbindung der Medien in den Alltag der Menschen in der Volkskunde bisher auf großes Interesse stieß. So hatte Heinz Steinberg bis vor einigen Jahren recht, wenn er ausführte: "Deshalb weigern sich heute in Universitäts-Veranstaltungen zur Lese(r)forschung und Leseförderung gerade die strebsamen Studenten, Seminararbeiten zu übernehmen - mit Recht, da es schlechterdings unmöglich ist, ihnen die erforderliche Fachliteratur zu beschaffen."[3] )

Dieser Zustand wurde korrigiert, denn im Zeitalter des Fernsehens und der Neuen Medien werden das Lesen und seine Verbreitung und damit eng verknüpft die Frage nach der Konstanz einer Lesekultur mittlerweile heftig und kontrovers diskutiert.[4] ) Setzen die Fortschrittsgläubigen auf die Welt der Computer, so reagieren die Traditionsbewußten (Bücherleser) dagegen mit Unsicherheit und Abgrenzung, wenn es um die vermeintliche Bedrohung der Lesekultur und ihres Mediums Buch durch den technischen Fortschritt geht. Die breite Entwicklung des Medienmarktes ließ jedoch im Gegensatz zu diesen Befürchtungen eher eine große Vielfalt entstehen. Statt des vorhergesagten "Endes des Buchzeitalters" ist die Lesekultur durch das Aufkommen neuer Medien erweitert und bereichert worden.[5] )

Beim Versuch, sich einen Forschungsüberblick zum Thema "Lese(r)forschung" zu verschaffen, fällt rasch auf, unter wie vielen differierenden Aspekten das Thema bereits wissenschaftlich betrachtet wird: Lesestoffe, Leseverständnis, Lesedidaktik, Lesepropädeutiken, Lesesucht, Alphabetisierung, Lesesozialisation, Leseförderung, Lesertypen, Buchmarktforschung, Freizeitbeschäftigung Lesen, Lesegewohnheiten, Rezeptionsforschung, Leserpsychologie, Lesemedien, Lesen und Kommunikation - all diese Stichworte gehören zum Kanon der Lese- und Kommunikationssituation einer Gesellschaft. Es verwundert deshalb um so mehr, daß gerade die volkskundliche Forschung sich bislang nicht schwerpunktmäßig mit dem Lesen befaßt hat, obwohl sie doch spezifische Verhaltensweisen und Umgangsformen in der Gesellschaft und vor allem im Alltagsleben untersucht und an den entsprechenden Ausprägungen "in der Familie, bei der Arbeit und bei Festen" interessiert ist.[6] ) Denn die "Volkskunde ist eine Wissenschaft, die sich mit dem alltäglichen Leben breiter Bevölkerungskreise befaßt. Ihr Blick richtet sich auf deren kulturelle Äußerungen in Vergangenheit und Gegenwart. Sie fragt, warum das, was vielen ganz selbstverständlich erscheint, sich gerade so manifestiert."[7] )

Da die Volkskunde breite Teile der Bevölkerung in ihren sozialen Grundstrukturen ebenso wie die Bedingungen des Alltagslebens zum Untersuchungsgegenstand hat, ist ihr die Erhellung der Aufnahme kultureller Normen oder Innovationen durch die Menschen einer Gesellschaft wichtig. Dazu gehören auch das Lesen, gedruckte und andere Medien sowie deren Nutzung. Die entsprechenden kulturellen Tendenzen oder Erscheinungen kann und muß der Volkskundler an ihrem ursprünglichen Platz im Alltagsleben erfassen.[8] )

Helge Gerndt umreißt den Interessenhorizont der Volkskunde wie folgt: "Wie die Menschen unseres Lebens- und Erfahrungsraumes heute ihr Dasein gestalten und in den vorausgegangenen Jahrhunderten gestaltet haben (...). Für was, wie und womit sie in unserer Zeit arbeiten und wie sie früher gearbeitet haben, wie sie sich ernähren und kleiden, was sie erzählen und singen, wovon sie leben, wie sie wohnen, was sie glauben und wissen, wie sie in Not und Gefahren fertig werden, wie sie feiern und wie ihr Zusammenleben funktioniert".[9] ) Wie und was sie lesen, möchte ich ergänzend hinzufügen.

Volkskundliche Forschung hat sich bislang in historischer Ausrichtung sowohl mit massenhaft verbreiteten Druckerzeugnissen (Flugblättern, Comics etc.) als auch mit Aspekten ihrer Wertevermittlung befaßt. So ist es opportun, im Zuge einer raschen kommunikationstechnischen Entwicklung auch in der Volkskunde die Auswirkungen des Mediennutzungs- und Kommunikationsverhaltens zu hinterfragen, denn Kommunikation ist ein wichtiger Strukturzusammenhang für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft. Die bisherigen theoretischen Überlegungen in der Volkskunde zielten auf medienbezogene Handlungskonzepte im Familienleben oder auch allgemein auf die Produktion von Ereignisräumen, etwa durch Life-Sendungen und deren Einfluß auf das häusliche Leben, z.B. in Form der Bildung einer spezifischen "Fernseh-Gemeinde" mit ihren Repräsentanten.[10] )

Hermann Bausinger betonte bereits 1978 die Wichtigkeit der Erforschung der kulturellen Seiten des gesellschaftlichen Lebens: "Volkskunde arbeitet mit anderen Sozialwissenschaften an realen Problemen, die immer auch ihre kulturale Seite haben. Die Analyse dieser kulturalen Seite gesellschaftlichen Lebens ist die Aufgabe der

Volkskunde".[11] ) Ein Ansatz zur Erforschung dieser kulturalen Seite in der Gegenwart zeigt sich am Themenkomplex des Volksundekongresses "Kinderkultur", 1995. Allerdings wurden hier auch wieder eher rezeptionsgeschichtliche als handlungsorientierte Betrachtungen eingebracht.[12] )

Als kulturwissenschaftliche Gegenwartsforschung geht die Volkskunde von heutigen Problemen aus; sie bedarf notwendig interdisziplinärer Zusammenarbeit, und zwar in differierenden Aufgabenfeldern, und rechtfertigt so die Berücksichtigung unterschiedlicher Forschungsansätze. Dieser Aspekt ist besonders für die Medien- und Leseforschung relevant, da hier die Forschungsergebnisse aus vielfältigen Herangehensweisen resultieren. Ähnlich wie den Bereich der Familienforschung teilt sich die Volkskunde das Feld der Lese(r)forschung mit so verschieden strukturierten Fächern wie der Psychoanalyse, der Familienforschung, der Kultur- und Sozialgeschichte, der Soziologie, der Kommunikations- und Medienforschung, der Buchmarktforschung sowie der Literaturwissenschaft. So gehören beispielsweise zur historischen Lese(r)forschung die Untersuchung der ersten Einblattdrucke, die Frage nach Verbreitung und Rezeption der ersten für die Massen hergestellten Textprodukte, der Kolportageromane, die Rezeption und Verbreitung der frühen Familienzeitschriften, wie der "Gartenlaube", ebenso wie die Untersuchung der Lesestoffe von Arbeitern und Dienstboten im 19. Jahrhundert. Die gegenwartsbezogene Lese(r)forschung umfaßt sowohl die Inhaltsanalyse von Heftromanen, z.B. der Landser- und Kriegsromanhefte oder der Popularkultur für Kinder, bis hin zu den Lesestrukturen in der modernen Familie unter dem Einfluß des Fernsehen. Es kommt in diesem Themenspektrum auch zu Überschneidungen der Lese(r) und Erzählforschung, wenn das alltägliche Erzählen unter dem Einfluß der modernen Medien untersucht wird.[13] ) Neben die historischen treten so empirische gegenwartsorientierte und lesepsychologische Arbeiten. Die Lebenslaufforschung, als Beitrag zur Untersuchung familialer und alltagsgeschichtlicher Zusammenhänge, ist ebenso wie die soziologischen Betrachtungen der persönlichen Medienerfahrungen von Jugendlichen diesem Forschungszusammenhang zuzurechnen.

Im Anschluß an die bereits erwähnten ersten Ansätze eines Interesses am Phänomen der Verbreitung und Rezeption von modernen populären Lesestoffen zum Ende der 70er Jahre[14] ), beschäftigten sich volkskundliche Forschungen der jüngsten Zeit nur noch sehr wenig mit dem oben umrissenen Themenkreis. In der mittlerweile bevorzugt empirisch arbeitenden Kulturwissenschaft Volkskunde wird der Bereich der gegenwartsbezogenen Lese(r)forschung fast völlig ausgeklammert.

Gerade für die an mentalitätsgeschichtlicher Forschung interessierte Volkskunde ist eine Vertiefung des Kenntnisstandes über das heutige Lese(r)verhalten anzustreben. Die Erzählforschung, welche sich mit den Erscheinungsformen der mündlichen, aber auch der schriftlichen Überlieferung des erzählten Volksgutes einer Gesellschaft beschäftigt, gehört seit jeher zum traditionellen Kanon der Volkskunde. Im Zusammenhang mit schriftlichem Erzählgut in Form von gedrucktem Lesestoff hat die volkskundliche Forschung immer wieder auch Themengebiete der Lese- und Leserforschung berührt. Dabei ist ihre Forschungstradition weniger direkt im Bereich der Lese(r)forschung, als vielmehr in der Erzähl- und Kommunikationsforschung zu sehen.

Die Medien des Lesens früherer Jahrhunderte, wie Traktate, Bilderbögen, Kolportageromane und Familienzeitschriften, wurden weitgehend gattungsgeschichtlich untersucht. Im Rahmen der Erzählforschung befaßt sich volkskundliche Forschung auch mit den durch moderne Medien geprägten Erzählinhalten.

Die Vermittlungsmodalitäten des Umgangs mit diesen Medien sind ebenso Gegenstand volkskundlicher Erzähl- und Kommunikationsforschung, da das individuelle Mediennutzungsverhalten sich auch in der Rezeption der kulturellen Angebote einer Gesellschaft widerspiegelt.

Gesellschaftliche Kommunikation korreliert mit den Erzählinhalten und steht so in Wechselwirkung mit der Lese- und Medienkompetenz, die die individuelle Kommunikationsfähigkeit beeinflußt. Dies impliziert auch für die Volkskunde eine Beschäftigung mit der Vermittlung der Lese- und Mediensozialisation, da deren Qualität sich direkt auf die Art und Weise des Lesens im Lebenslauf und den Umgang mit den modernen Medien auswirkt.

 

1.1. Historisch orientierte Forschungen

Wegweisend für die historische Lese(r)forschung sind die Pionierarbeiten von Rudolf Schenda und Rolf Engelsing[15] ) zu den Angeboten, Möglichkeiten und Verhinderungen der Lesesozialisation in den unteren Sozialschichten, die zahlreichen Forschern neue Erkenntnis- und Interessenfelder eröffneten. Notwendigerweise wurden hier auch die quellenmäßigen und methodischen Voraussetzungen der Lesergeschichte geklärt.[16] )

Zur Rezeption von Lesestoffen in den höheren Gesellschaftsschichten haben Otto Dann und andere sehr anschaulich beschrieben, wie sich bereits im 17. und 18. Jahrhundert das moderne Bürgertum nicht nur ökonomisch als neue Führungsschicht in Europa durchsetzte, sondern es auch als lesendes Publikum eine neue Bildungsschicht darstellte.[17] )

Bis ins 20. Jahrhundert hinein blieb das Lesen von Büchern eine Domäne privilegierter Bevölkerungsschichten. Dieter Langewiesche wies anhand der Untersuchung von Arbeiterbibliotheken nach, daß bis in die Weimarer Republik hinein literarisch interessierte und lesende Arbeiter und Dienstboten zu den Randgruppen ihrer eigenen Klasse zählten.[18] ) Für die Zeiten des Deutschen Kaiserreiches sind die Ergebnisse der historischen Lese(r)forschung der unteren Bevölkerungsschichten eher spärlich. Langewiesches grundlegende Arbeiten für den Bereich des Leseverhaltens der Arbeiter in der Weimarer Republik sind stark rezeptionsgeschichtlich und weniger leserspezifisch ausgerichtet. Meine Inhaltsanalyse von Arbeiterautobiographien aus dem Deutschen Kaiserreich kam zu dem Ergebnis, daß bücherlesende Arbeiter über das Lesen in der Regel einen Bildungsaufstieg anstrebten, also zweckgebunden lasen, und auch hier zur Minderheit ihrer Klasse gehörten.[19] ) Interessante Aussagen zum Leserverhalten dieser Jahre bis hin zur Zeit der Aufbaujahre der Bundesrepublik finden sich in den Monographien der Bibliotheksgeschichtsforschung.[20] )

Im Rahmen der "Oral History"- Forschung gibt es für den Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen und die Jahre nach 1945 Aussagen zur Lesesozialisation. Erfragt wurden diese allerdings stets im Kontext mit anderen Themen wie Schule und Berufsausbildung, wobei der Schwerpunkt des Interesses auf den Lebensumständen in den speziellen historischen Zeiträumen lag.[21] )

Um zwei neuere Beiträge zur historische Lese(r)forschung handelt es sich bei den Untersuchungen von Erich Schön "Der Verlust der Sinnlichkeit"[22] ) und Fritz Nies: "Bett und Bahn und Blütenduft".[23] ) Beide versuchen auf unterschiedliche Weise ein Bild von der Vorstellung des Lesers im historischen Kontext zu geben. In seiner Untersuchung zur Lesergeschichte des 18. Jahrhunderts rekonstruiert Schön anhand von Text- und Bildquellen, wie sich gegenüber dem "Lesen mit allen Sinnen" die uns geläufigen Haltungen beim Lesen herausgebildet haben. Diese verlaufen parallel zu einem "Verlust der Sinnlichkeit beim Lesen". Im Mittelpunkt seines Interesses steht dabei der "reale" Leser des 18. Jahrhunderts, der "Endverbraucher" von Literatur, "nicht der fiktiv im Text imaginierte Rezipient".[24] )

Nies dagegen beschreibt die Vorstellung vom Leser unter wechselnden gesellschaftlichen Bedingungen bis zum Beginn der 80er Jahre unseres Jahrhunderts. Seine Hauptaufmerksamkeit gilt einem "mentalitätsgeschichtlichen Phänomen". Beide Autoren untersuchen nicht das Lesen als solches, seine Bedingungen und Auswirkungen, sondern vielmehr die sich in ihren ikonischen Quellen niederschlagenden Auffassungen und Vorstellungen zum und vom Lesen und den Lesern.[25] )

2. Gegenwartsbezogene Lese(r)forschung

In den wenigen volkskundlichen Lese(r)forschungen zur Gegenwart steht der Leser als ein motivationsgeleiteter Rezipient im Mittelpunkt der Betrachtungen und wird stets im engen Kontext mit den Inhalten des Literaturbereiches der Trivialliteratur - den vermeintlich klassischen Lesestoffen der unteren Bevölkerungsschichten - untersucht.[26] )

Der 20. Volkskunde-Kongreß 1976 stand zwar unter dem Oberthema der "Direkten Kommunikation und Massenkomminikation", aber im Tagungsband vermißt man Beiträge die sich auf die Lese(r)forschung und das Lesen beziehen.[27] ) Einen Ansatz zur Beschäftigung mit Kindern und Jugendlichen als Rezipienten bietet der von Klaus Jensen und Jan-Uwe Rogge herausgegebene Band zum Medienmarkt für Kinder.[28] ) allerdings geht auch hier keiner der Beiträge auf das Lesen oder Leseverhalten von Kindern ein.

Da die volkskundlichen Beiträge zur Lese(r)forschung der Nachkriegszeit so rar sind, werde ich im folgenden die Studien der Buchmarkt- und Kommunikationsforschung vorstellen, die sich bereits seit längerem mit dem Phänomen des Lesers und des Lesens in unserer Gesellschaft befassen.

2.1 Ergebnisse der Buchmarkt- und Kommunikationsforschung.

Seit 1958 liegen im deutschsprachigen Raum zahlreiche zunächst vom Buchhandel intiierte empirische Untersuchungen zum Leseverhalten der Bevölkerung vor. Diese am Auftraggeber orientierte Buchmarktforschung wurde zunächst zum Zwecke der Verbesserung der Absatzmöglichkeiten und Vertriebswege der Buchhandelsprodukte betrieben. Ursprünglich für die Entschlüsselung der Kauf- und Lesegewohnheiten des Publikums gedacht, entstanden über die ersten rein statistischen und quantitativen Erfassungen hinaus qualitative Untersuchungen, um Lesegewohnheiten, Leseverhalten und die Einstellung der Leser zu den Medien, insbesondere zum Buch, zu analysieren.[29] )

Im Jahre 1961 wurden die Ergebnisse der ersten Untersuchung von 1958 unter dem Titel "Das Buch in der Gegenwart" veröffentlicht. Hier liegen die Anfänge der Demoskopie für den Buchhandel und der Buchmarktforschung.[30] ) Eine anschließende, 1965 vom DIVO-Institut erarbeitete Studie setzte sich - unter Einbeziehung des anbrechenden Fernsehzeitalters - verstärkt mit den sozialen Bedingungen des Lesens wie der Verbreitung von Büchern in den einzelnen sozialen Gruppen, Lesemotivationen und der Funktion des Buches auseinander.[31] ) Bereits in dieser Zeit kristallisierte sich heraus, daß die Bedürfnisse nach Unterhaltung und Entspannung nicht mehr überwiegend durch Lesen befriedigt wurden, sondern zu großen Teilen von den anderen Medien.

Die zentralen Fragen der Buchmarkforschung bezogen sich so einerseits auf die Lesehäufigkeit, die Lesedauer und Leseintensität, andererseits auf die Bedürfnisse, die mit dem Lesen befriedigt werden sollen. Ein Schwerpunkt des Forschungsinteresse war es außerdem, das Nutzungsverhältnis zwischen den vermeintlich konkurrierenden Medien Buch und Fernsehen zu ergründen. Gegenüber den Ergebnissen einer ersten Untersuchung von 1958 war das Fernsehen mittlerweile zu einem zentralen Faktor des Freizeitverhaltens geworden.[32] )

In der 1967 erhobene und 1968 publizierte Studie "Lesekultur in Deutschland"[33] ) formulierte Schmidtchen eine eher pessimistische Zukunftsvision für das Lesen und sein Hauptmedium, das Buch: "Die Entwicklung der Gesellschaft und ihrer Massenmedien bringt die Bevölkerung zu Freizeitbeschäftigungen und Formen des Zusammenlebens, die dem Bücherlesen im Wege stehen. (...) Gelesen wird heute unter Bedingungen, die unzweideutig zeigen: Bücherlektüre ist an die Peripherie der gesellschaftlichen Aktivität gedrängt. Gelesen wird in den Lücken, den zufällig geschützten Winkeln eines von praktischen Tätigkeiten, Familienleben und den Unterhaltungsmedien angefüllten Tageslaufs (...) Bücherlesen bewegt sich am liebsten dort, wo die Kontrolle anderer über das, was sie tun schwach oder ausgeschaltet sind: Lesen vor dem Einschlafen, während der Bahnfahrt."[34] ) Zugleich konstatierte Schmidtchen bereits 1968 eine an das Lebensalter gebundene Leseintensität. Einen weiteren Schwerpunkt in noch folgenden Erhebungen und auch der neueren Nutzerforschung der Öffentlichen Bibliotheken nahm er ebenfalls vorweg: Junge Menschen kaufen am häufigsten Bücher und lesen diese am intensivsten. Mit zunehmenden Alter läßt sowohl die Kauf- als auch die Leseintensität nach.[35] )

1973 wurde unter Schmidtchens Leitung eine zweite Untersuchung durchgeführt und 1974 ebenfalls unter dem Titel "Lesekultur in Deutschland" publiziert. Diese Studie sollte primär "Trendvergleiche über die Entwicklung der Lese- und Kaufgewohnheiten" bieten,[36] ) indem zu den drei Hauptmotivationsbereichen, nämlich zur Sozialisation, zur Bedeutung des Buches für das Wertsystem des Menschen, sowie zu positiven und negativen Erlebnisse mit dem Buch Aussagen ermittelt wurden. Im Gegensatz zu Girardi[37] ) stellte Schmidtchen in dieser Untersuchung das Fernsehen erneut als "Feind des Lesens" dar: "53 % der Teilnehmer erklärten, sie kämen, seit sie ein Fernsehgerät besitzen, weniger zum Bücherlesen als früher".[38] )

Auch die noch folgenden Untersuchungen der späten 70er Jahre ergaben, daß trotz einer rein quantitativen Steigerung der Buchverkaufsrate um 10% zwischen 1967 und 1976, nicht mit steigender Tendenz gelesen wurde. Als ursächliche Bedingungen, die zu einem stabilen Verhältnis des Lesers zum Buch - und damit zum Lesen - führen, zeichneten sich immer wieder der Grad der Lesekultur im Elternhaus, die Anregung durch die Schule, der Intensität der formalen Bildung, Art und Dauer der Ausbildung sowie das jeweilige gesellschaftliche Umfeld (Peer-Groups) aus. Zu den bis hierhin erwähnten repräsentativen Studien sei angemerkt, daß sie alle das Medium Buch und das Lesen isoliert, ohne eine Berücksichtigung alternativer Kommunikationsaktivitäten untersuchten.[39] ) Ihre Ergebnisse spiegeln weitgehend eine traditionelle Vorstellung vom "gebildeten Leser" wider, von dem man im Vorwege bereits ausging. Auch auf eine Differenzierung der Motivationen, die Buchnutzung und Buchkauf zugrunde liegen, wurde weitgehend verzichtet.[40] ) Die Abwendung von rein demoskopischen Untersuchungen bzw. die Ergänzung der demoskopischen Ansätze durch längerfristige Untersuchungsprojekte erschien sinnvoll und erweiterte die Erkenntnisse zur Erforschung des Lesens und seiner Integration in die Sozialisation und den Lebenslauf stark.[41] ) In diesem Sinne lenkten die Studien der Buchmarktforschung nicht nur die Aufmerksamkeit der Kommunikationswissenschaft auf die Thematik der Leser und ihrem Verhältnis zum Medium Buch sowie ihrer Teilnahme am Kommunikationsprozeß. Diesem Interesse schlossen sich auch andere Fachrichtungen an.[42] )

Eine der frühen Studien, die der Differenzierung der gesamten Mediennutzung durch einen interdisziplinärer Ansatz gerecht wurde, publizierte Unholzer 1978, in der Absicht Ergebnisse sowohl für die Buchmarkt- als auch die Leserforschung zu erhalten. Ihrer Konzeption liegt die These zugrunde, daß sich der individuelle Bedarf von Kommunikationsmitteln nur erheben läßt, wenn zugleich nach der Mediennutzung und der mit ihr verbundenen Motivation bzw. den Kommunikationsbedürfnissen, die der jeweiligen Mediennutzung zugrunde liegen, gefragt wird. Die Buchnutzung diente den Lesern besonders dazu, fachliches Wissen zu erweitern, "um es im Leben zu etwas zu bringen" und um die Kenntnisse eines persönlich interessierenden Gebietes, wie z.B. eines Hobbys, auszubauen. Erst an zweiter Stelle rangierte das Buch als literarisches und Unterhaltungsmedium, um die Bedürfnisse "Abschalten", "Träumen", "sich selbst besser kennenzulernen" zu befriedigen.[43] ) Das Lesen als ein Bestandteil der Mediennutzung eines Menschen wurde jetzt als von außen beeinflußbare Größe angesehen, denn die Angebote anderer Medien können den Buchkauf sowohl anregen als auch verhindern. Die traditionellen Ansätze der Buchmarktforschung wurden hier erstmals mit den Entwicklungen der Medien- und Kommunikationsforschung verknüpft, wodurch das Lesen in der Forschung konsequenter als bis dahin in den Kontext des gesamten Medienverhaltens integriert und von nun an als eine unter mehreren Mediennutzungsmöglichkeiten gewertet wurde.

Ein wichtiges neues Stichwort für die Lese(r)forschung war ferner die in der Sozialisation bereits Jugendlichen zu vermittelnde "Medienkompetenz" des Rezipienten, die in einer schweizer Untersuchung von 1980: "Die Massenmedien im Leben der Kinder- und Jugendlichen" erstmals Berücksichtigung fand.[44] )

Die Lese(r)forschung geriet durch solcherart neue Aspekte in Bewegung, begleitet von einer teilweise heftigen Diskussion über Vermittlung, Zustand und Zukunft der Lesekultur im modernen Fernsehzeitalter.[45] ) Die neueren Untersuchungen zum Leseverhalten "dokumentieren allesamt eine Hinwendung der Lese(r)forschung zur Sozialisationsperspektive in der Kommunikationsforschung".[46] )

In den beiden Untersuchungen "Jugend und Medien" sowie "Lesen, Fernsehen und Lernen" wurde der Zusammenhang der Nutzung von Lese- und audiovisuellen Medien aufgegriffen.[47] ) Geringe formale Bildung und ein niedriger sozialer Status begünstigten die Tendenz umfangreicher Fernsehnutzung und entsprechend marginaler Rezeption über das Lesen von Büchern und Zeitschriften. Die jeweils praktizierte Mediennutzung in der Familie prägt die spezifische Entwicklung der Mediennutzungskompetenz, von der wiederum die Wahrnehmungs- und Rezeptionsprozesse beeinflusst werden. Habituelles Lesen übt demnach einen signifikanten Einfluß auf die Informationsaufnahme und die damit einhergehenden Lernprozesse aus.[48] )

Einem 1988 begonnenen Dortmunder Kabelpilotprojekt unter der Leitung von Bettina Hurrelmann/Klaus Notwitzki und Heinrich Possberg[49] ) lag als Forschungsintention die Konkurrenzsituation zwischen Fernsehen und Lesen im familiären Kontext zugrunde. Hier wurden die Resultate aus der Schweiz weitgehend bestätigt: Die Prägung des Leseverhaltens Jugendlicher findet schwerpunktmäßig in der Familie statt. Neu war die Erkenntnis, daß das Fernsehen wesentlich stärker Gemeinsamkeiten und Rollenfestschreibungen im Familienverband prägt als das Lesen (Vgl. auch Kapitel IV.) Angesichts dieser Ergebnisse drängte sich die Frage auf, "ob sich mit der Expansion des elektronischen Unterhaltungsangebotes die Kluft zwischen den beiden Mediensystemen und ihren sozialen Voraussetzungen vergrößern wird". Um dies zu verhindern,"müßte (man) zuallererst die Chancen der Lesemedien beim Wettbewerb mit dem Fernsehen und die Zuwendung der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen verbessern".[50] )

Daß Leseförderung vor allem die sozialen Bezüge des Lesens berücksichtigen und die Entwicklung der Lesebiographie als einen Teil der Sozialisationsprozesse verstehen muß, wurde anhand der von Renate Köcher ebenfalls 1988 veröffentlichten Studie "Familie und Lesen" deutlich.[51] ) Köcher bemühte sich 1988 durch die retrospektive Befragung von Erwachsenen erste Erkenntnisse über das Leseklima in den Familien zu gewinnen, in der auch sie den fördernden Schwerpunkt für die Lesesozialisation verankert sieht. Sie untersucht die Zusammenhänge zwischen den Erfahrungen im Elternhaus und dem späteren Leseverhalten, um so Erkenntnisse über den "Lebenszyklus des Lesens" zu gewinnen und im "Generationenvergleich" Veränderungen in der Beziehung zum Lesen und des Stellenwertes der Leseerziehung in der Familie zu verfolgen.[52] ) Betont werden auch hier die Bedeutung der Einflußfaktoren Elternhaus, Ausbildung und soziales Umfeld auch für die spätere Beziehung zu Büchern und das habitualisierte Leseverhalten. Die Ergebnisse bestätigten die Resultate Hurrelmanns et. al., die ein ungleichgewichtiges Interesse der Eltern am Fernseh- und Leseverhalten ihrer Kinder konstatierte. "57% der Eltern von Kindern zwischen 6 und 16 Jahren möchten auf die Fernsehgewohnheiten ihrer Kinder Einfluß nehmen, aber nur 21% auf die Lektüre".[53] )

Die Einstellung der Bevölkerung zum Zusammenhang von Mediennutzung und Lesen näher beschreiben zu können, war 1989 das Ziel der Studie "Kommunikationsverhalten und Medien"[54] ). Der Datensatz wurde untersucht auf den prozentualen Anteil des Lesens an den gewohnheitsmäßigen Kommunikationsstrukturen im Alltag. Dabei kristallisierten sich unter den Mediennutzern - zu denen auch die Buchleser gerechnet wurden - vier kommunikative Strukturen heraus: a) die Individualisten, b) die Informationskonsumenten, c) die audiovisuellen Konsumenten und d) die Abstinenten.[55])

Mittels der Studie "Massenkommunikation" wird seit 1964 im Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen-Fernsehanstalten in mehrjährigen Abständen (1980, 1985, 1990, 1992 und 1996) das Medienverhalten der bundesdeutschen Bevölkerung untersucht, mit dem Ziel die Langzeitentwicklung von Mediennutzungsverhalten, Medienimage und den sozialen Folgen der Massenkommunikation zu beurteilen. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen jeweils die tagesaktuellen Medien.[56] ) Ergänzend sei auch noch auf die 1991 von der ARD- und ZDF-Medienkommission initiierte Studie "Kultur und Medien" hingewiesen.[57] ) Die hier verzeichnete große Resonanz der Belletristik unter den Lesern wird nicht zuletzt darin begründet, daß Lektüre zur Muße im Gegensatz zu anderen kulturellen Aktivitäten kaum von der örtlichen Infrastruktur abhängt. Besonders deutlich wurde in den Ergebnissen dieser Studie, daß das Fernsehen grundsätzlich nur selten lesefördernd wirkt.[58] ) Der häufig proklamierte, vermeintliche Rückgang von Lektüre beruht vielmehr auf einer für das Lesen folgenreichen Änderung von Mediennutzungsgewohnheiten in den jüngeren, mit dem Fernsehen sozialisierten Generationen.[59] ) In diesem Sinne wird das Lesen als eine "Basiskulturtechnik der Gesellschaft" bezeichnet,(...) die die Voraussetzungen und den Zugang zur Auseinandersetzung mit der übrigen Kunst und Kultur erst ermöglicht".[60] ) Die Tatsache aber, daß dem Lesen von den Lesern im Lebenslauf verschiedene Funktionen zugewiesen werden, die sich wandeln, wird bei dieser Betrachtungsweise vernachlässigt.

Die Studie "Lesen im internationalen Vergleich" skizzierte den Stand der Forschung zum Leseverhalten in der Bundesrepublik, im europäischen Ausland und in den USA,[61] ) unter Verweis auf Forschungsdesiderate im Bereich der Leserforschung. So fehlten nach wie vor empirisch belegte Aussagen über den individuellen Nutzwert des Lesens, ebenso wie kontinuierliche Langzeitforschungen, die genauere Daten zur Leseförderung und Medienerziehung liefern könnten.[62] ) Auch International ließ sich nachweisen, daß der familiäre Einfluß für die Entwicklung der Lesesozialisation und damit auf das Leseverhalten, nach wie vor größer ist, als der der Schule.

Führend in der Erforschung des Lesens und seiner Bedeutung für den gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß ist das Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien, das in den letzten Jahren Studien und Auswertungen von Forschungsprojekten veröffentlichte, in denen sich intensiv mit einer Analyse der Sozialisationsbedingungen und ihren Einflüssen auf das Lese- und Kommunikationsverhalten der Gegenwart auseinandergesetzt wurde.[63] ) Hier wird sich besonders darum bemüht, das Verhältnis von Lesen und Mediennutzung zu ergründen, dessen Verknüpfung in einer modernen Mediengesellschaft offenkundig ist. Da in diesen Arbeiten Leser- und Mediennutzungstypen definiert werden, gehe ich unter II.4. näher auf ihre Ergebnisse ein.[64] )

Die Resultate eines Forschungsprojektes zum Schwerpunkt "Lesesozialisation" liegen in zwei Bänden vor. Das gesamte Projekt umfaßt drei miteinander verbundene Einzelstudien, die sich jeweils mit "charakteristischen Problemen in der Lesebiographie befassen".[65] ) Gefragt wurde nach dem Einfluß von Familie, Schule und sozialem Umfeld, aber auch danach, wie Kinder und Jugendliche heute die Medienvielfalt erleben und wie sie mit ihr umgehen. "Lesen wird so als Teil der Medienwelt" gesehen, das einen "maßgeblichen Anteil an der Ausbildung der Medienkompetenz besitzt."[66] )

Die jüngeren Untersuchungen gelangen nahezu übereinstimmend zu dem Resümee, daß die durchschnittlichen Lektürezeiten für Printmedien leicht abnehmende Tendenzen aufweisen. Im Vergleich läßt sich allerdings konstatieren, daß das Leseverhalten nahezu fünfunddreißig Jahre stagnierte und wenn, dann gemessen an der Entwicklung und Expansion des Buchmarktes, nur minimale Entwicklungen aufweist.[67] ) Obwohl das Angebot sowie die Vielfalt der potentiell verfügbaren Medien gestiegen sind, wird nicht weniger aber auch nicht unbedingt mehr Zeit für Lektüre aufgewendet. In der Hoffnung, daß eine gezielte Leseerziehung diese Stagnation positiv in Bewegung bringen könnte, bemühte man sich entsprechend wirksame Ansatzpunkte für eine Leseförderung zu entwickeln. Da diese auch noch erwachsene Leser beeinflussen soll, mußten zunächst die Motive des Lesens und ihre Befriedigungstendenzen im Kontext des gesamten Mediennutzungsverhalten untersucht werden.

Voraussetzung für eine derartige Konstituierung des Lesens als Kulturtechnik ist allerdings die Kenntnis der Bedeutung und Wandlung von Lesen im Lebenslauf, nicht zuletzt auch unter den Veränderungen des medialen Umfeldes und Angebotes. Zur Bedeutung, Funktion und Veränderung des Lesens im Lebenslauf soll meine Untersuchung einen Beitrag leisten. Die Verankerung des Lesens im Lebenslauf steht dabei im Mittelpunkt meiner Arbeit.

Die vorgestellten Forschungen ergaben eindeutig, daß das Lesen in der Regel immer noch mit der Lektüre von Büchern konnotiert wird, auch wenn dies im Kontext der ständigen Erweiterung des Medienmarktes - und vor allem auch der gedruckten Medien - so keine Gültigkeit mehr besitzt. In bezug auf das Lesen, als eine in den Alltag der Leser integrierte Tätigkeit, ist im Zusammenhang damit auch zu hinterfragen, wie stark hier mit dem Lesen verbundene stereotype Meinungsbilder noch wirksam sind.

Um ein reales Bild von der Funktion des Lesens im Leben zu gewinnen, sollte die lebenslauforientierte Leserforschung notwendigerweise in ihren Fragestellungen grundsätzlich alle lesefähigen und lesebereiten Menschen einschließen und die Gesamtheit ihrer Lesestoffe berücksichtigen - ohne die Leser bestimmter Lesestoffe zu stigmatisieren, wie es z.B. lange Zeit mit Comics oder Heft-Romanen praktiziert wurde. Wie stark die Intensität des Lesens im Lebenslauf von den persönlichen Lebensumständen abhängt, und wie sich diese konkret auf das Leseverhalten auswirken, läßt sich jenseits der Typenbildung allein aufgrund von Angaben zur Lesehäufigkeit oder den Leseinteressen nur schwer klassifizieren. Die Analyse der fokussierten Interviews soll weiterführende Belege für die Vielfalt der Einbindung des Lesens, seine Funktionen und deren Veränderung im Lebenslauf bieten.

 

2.2 Ergebnisse der Freizeitforschung

Die Beschäftigung mit dem Lesen - einer Variante der Mediennutzung in der Freizeit - bedingt auch die Frage danach, wie Menschen ihre freie Zeit verbringen, denn die Nutzung von Medien bindet Zeit, die dann für andere Aktivitäten nicht zur Verfügung steht. Besonders das Lesen schränkt das Spektrum gleichzeitiger anderer Tätigkeiten stark ein, da es so gut wie keine Nebentätigkeiten ermöglicht. Die zeitlichen Freiräume für umfassende Lektüre werden offenbar immer rarer, ein Trend, auf den ich in der Interviewanalyse näher eingehe. Einen Erklärungsansatz hierfür bieten die Ergebnisse der Freizeitforschung, die Veränderungen des Freizeitverhaltens sowie einen parallel verlaufenden Wandel in der Gewichtung der Freizeit feststellten.

Für die Geschichte der Freizeitgestaltung der Bürger der Bundesrepublik lassen sich vier Phasen unterscheiden[68] ): In den 50er Jahren dominierte die "erfolgsorientierte" Freizeit als reine Regeneration nach der und für die Arbeit. Bereits kurz nach seiner Einführung entwickelte sich in diesen Jahren das Fernsehen zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung. Dagegen gelten die 60er und 70er Jahre als die Phase der "konsumorientierten" Freizeit. Es wurde gearbeitet, um sich etwas leisten und um die erbrachte Leistung in Form von Statussymbolen, wie Auto, Einfamilienhaus, Reisen und Farbfernseher vorzeigen zu können. Für die Gestaltung der Freizeit in den 80er Jahren verlor der Konsum die zentrale Rolle, da "erlebnisorientiert" die eigene Aktivität und Kreativität im Mittelpunkt standen. Das "Selbermachen" in Form von Handarbeiten, Heimwerken, selbstorganisierten Reisen usw. expandierte und erhielt einen wichtigen Stellenwert. Für die 90er Jahre wird daraus eine Tendenz zum Rückzug in private Sphären, bei gleichzeitiger Wahrung der gewohnten Geselligkeit. Zugleich gewinnt das Verfügen über "Zeit für sich allein" an Bedeutung. Die Ansprüche an die Nutzung dieser freien Zeiten wiederum werden stark von den populären Massenmedien geprägt. Zu diesem Ergebniss kamen Ulrich Saxer und Marianne Landolt in ihrer Studie über die Prägung von Lebenstilmodellen für die Freizeit durch die Massenmedien.[69] ) Sie weisen darauf hin, daß die Massenmedien die Stil- und Geschmackbildung der Rezipienten in starkem Maße beeinflussen und somit auch gesellschaftliche Vorbilder für die Fragen der Freizeitgestaltung liefern.

Die Nutzungsgewohnheiten Erwachsener von Printmedien (Tageszeitungen, Zeitschriften, Bücher) in der Freizeit wiederum lassen sich kaum an präzisen Trends festmachen, sie sind über die Jahrzehnte hinweg offenbar stabil geblieben.

Obwohl Fernsehsender und Programme mit überwiegend populären Programmangeboten durch die zahlreichen privaten und Satellitensender sprunghaft anstiegen, verzeichnet die gegenwartsbezogene Freizeitforschung in den 90er Jahren die Tendenz zum reduzierten Fernsehkonsum. Zumindest der erwachsene Freizeitkonsument ist in seiner Auswahl kritischer geworden, da "die Zeit (...) oft zu kostbar (ist), um sie vor dem Fernsehgerät zu verbringen".[70] )

Auch das Lesen und Lesevergnügen in Form von ausgiebiger Buch- und Zeitschriftenlektüre steht im Kontext mit freier Zeit, da Lesen zur Unterhaltung und Information primär eine Freizeittätigkeit ist. Es ist anzunehmen, daß die angesprochenen Rückzugstendenzen in private Sphären für das Lesen eigentlich einen Aufschwung bedeuten müßten. In der Praxis aber wirkt sich dieser Trend nur marginal aus.[71] )

Der bereits erwähnte Wertewandel wird besonders deutlich anhand der veränderten Einstellung zur Notwendigkeit von Dauer und Intensität der Berufstätigkeit. Mit der gestiegenen durchschnittlichen Lebenserwartung ist zugleich eine drastische Verringerung des Anteils der Berufsjahre verbunden. Die hauptberufliche Lebensphase macht heute nicht mehr zwei Drittel, sondern nur noch knapp die Hälfte des Lebens aus.[72] ) Obwohl heutige Generationen objektiv gesehen über mehr Freizeit denn je verfügen, empfinden 45% der Arbeitenden subjektiv, daß sie weniger oder zu wenig freie Zeit besitzen.[73] ) In der arbeitsfreien Zeit soll der persönliche Zugewinn durch Freizeitaktivitäten möglichst effektiv und umfangreich sein, zugleich müssen die Aktivitäten aber an die finanziellen Möglichkeiten angepaßt werden.[74] ) Es existiert offenbar ein Erlebnisanspruch, der die Erwartung nährt, daß sich die Aktivitäten der Freizeitgestaltung deutlich vom Arbeitsalltag abgrenzen. Das Anspruchsniveau an die eigene Freizeit steigt mit höherer Bildung und wachsendem Einkommen. Eine damit eng in Zusammenhang stehende - stets expandierende - Freizeitindustrie bringt ergänzend eine zunehmende Kommerzialisierung der Freizeit mit sich.[75] )

Leider wird das Lesen als Freizeitbeschäftigung in der Freizeit-Forschung nur selten berücksichtigt, so daß sich Aussagen zum Leseverhalten in der bislang vorgestellten Freizeitforschung eher als "Randprodukte" ergeben. Andererseits betonen fast alle Befragten, daß sie gerne in ihrer Freizeit lesen oder lesen würden, wenn sie "genügend Zeit dafür hätten".[76] ) Obwohl der Wunsch nach "Muße" existiert, gilt die Devise "mehr tun in gleicher Zeit". Mit diesen Worten läßt sich ein Umschwung der letzten Jahre benennen, der zahlreichen Freizeitbeschäftigungen den Stempel von Hektik aufdrückt, da immer mehr Tätigkeiten in kurzen Sequenzenzen - häufig im zwei Stunden-Rhythmus - beziehungsweise zeitgleich erledigt werden.[77] ) Aus beruflichen und individuellen Interessen heraus sind vielfältige Formen der Weiterbildung Teil des Lebensinhalts. In diesem Sinne gilt Freizeit nicht nur als Erholungszeit, sondern hat einen differierenden Eigenwert bekommen.[78] ) Nicht alle Bevölkerungsteile besitzen eine uneingeschränkt positive Einstellung zur Freizeit; insbesondere Jugendliche, die ihre freie Zeit oft nicht befriedigend zu nutzen wissen, gehören hierzu. Ihnen fehlt es an Alternativen zum reinen Freizeitkonsum sowie an kostengünstigen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung.[79] ) Das sinnvolle Ausfüllen der Freizeit Jugendlicher rückt immer stärker in den Brennpunkt öffentlichen Interesses. Wolfgang Nahrstedt sieht die Freizeitpädagogik als "tertiäre" Pädagogik an, die neben der primären, also familiären und außerschulischen und der sekundären, der schulischen Pädagogik, wirksam werden sollte.[80] ) Dementsprechend ist Freizeitkompetenz in engem Zusammenhang mit Medienkompetenz zu sehen.[81] )

Im Rahmen der erweiterten Freizeit und des veränderten Freizeitverhaltens ist eine - gegenüber ihren Anfängen stark modifizierte - Medienlandschaft mit umfassenden Angeboten und weiterentwickelten Informationstechnologien zu verzeichnen, die zu einem veränderten Kommunikationsverhalten der Bevölkerung hinsichtlich Bildung und Unterhaltung führte. Umfang und Intensität der Printmediennutzung in der Freizeit sind als vielfältige Freizeitaktivitäten stark von der Sozialisation und dem formalen Bildungsgrad abhängig. Lesen ist dafür die Basiskompetenz, die für das Verständnis der verschiedenen Medienangebote und ihrer Nutzung, wie unter anderem dem regelmäßigen Lesen von Büchern sowie für den Aufbau einer strukturierten Wissensbildung - auch in der Freizeit - von elementarer Bedeutung ist.

 

Fußnoten:

[1])Auch in der Didaktischen Forschung findet die Lese(r)forschung ebenfalls Eingang, weil es im Zuge der "Untergangstimmung" in puncto lesen darum geht, die Effektivität und Möglichkeiten des Erstlese- und anschließenden Deutschunterrichtes genauer zu beleuchten.

[2])In diesem Zusammenhang sind einige Titel aus den Veröffentlichungen des Ludwig-Uhland-Institutes in Tübingen zu nennen: Bayer, Dorothee: Der triviale Familien- und Liebesroman im 20. Jahrhundert. Tübingen 1963; Geiger, Klaus F.: Kriegsromanhefte in der Bundesrepublik. Tübingen 1974; Lauterbach, Burkhart R.: Bestseller. Produktions- und Verkaufsstrategien. Tübingen 1979; Jensen, Klaus; Rogge, Jan-Uwe: Der Medienmarkt für Kinder in der Bundesrepublik. Tübingen 1980. Zu den Anfängen der volkskundlichen Lese(r)forschung der Gegenwart gehört auch die Untersuchung von Klaus F. Geiger und Adelheid Schmutzler: Was gibt es wo zu lesen? Ergebnisse einer Erhebung in Rotenburg/Wümme. In: Rotenburger Schriften 44/ 1976, S.132-154. An dieser Stelle möchte ich noch darauf hinweisen, daß die Fußnoten kapitelweise durchnummeriert sind. Genannt werden jeweils einmal Autor, Titel, Erscheinungsort und -jahr. Einer Wiederholungen im gleichen Kapitel folgt ein Verweis auf die entsprechende Fußnotennummer. Reihentitel etc. sind im Literaturverzeichnis aufgeführt.

[3])Steinberg: Die Helfer. In: Die Zeit 10/88, S.59.

[4])Im Grunde wird das Verhältnis von Lesen und audiovisuellen Medien seit der Einführung des Fernsehens kontrovers diskutiert. Durch die jüngste Medienentwicklung im Bereich der Videogeräte und Personalcomputer stehen diese auch im Wettbewerb um die Gunst der Mediennutzer. In den letzten Jahren wird in der Diskussion allerdings weniger von einer Konkurrenz-, als vielmehr von einer sich ergänzenden Medienensituation gesprochen.

[5])Zur Bereicherung der Buchkultur durch moderne Medien siehe Paul Raabe: Historische Lesekultur. In: Buchhandelsgeschichte 4/1987 (Herausgegeben von der Historischen Kommission des Deutschen Buchhandels). B.143-148.

[6])Gerndt, Helge: Studienskript Volkskunde. Eine Handreichung für Studierende. München 1990. S.63.

[7])Ebda., S.25.

[8])Dazu sind die Warenhaussortimente, die Kioskliteratur und das Medienverhalten in familiären Kontexten gleichermaßen als Forschungsgegenstände prädestiniert.

[9])Ebda., S.25.

[10])Vgl. hierzu Rath, Claus-Dieter: Life - Live: Fernsehen als Produzent von Ereignisräumen im Alltag. In: Brednich, Rolf W./Hartmann, Andreas (Hrsg.): Populäre Bildmedien. Göttingen 1989.

[11])Bausinger, Hermann: Volkskunde im Wandel. In: Ders.; Jeggle, Utz; Korff, Gottfried; Scharfe, Martin: Grundzüge der Volkskunde. Darmstadt 1978. S.1-16. Hier S.14.

[12])Kinderkultur. 25. Deutscher Volkskundekongreß in Bremen 1985. Köstlin, Konrad (Hrsg.). Bremen 1987. Auf Fragen zum Leseverhalten von Kindern, den Intentionen ihrer Leseerziehung und auf die von ihnen genutzten Medien ging eigentlich nur ein Nicht-Volkskundler ein: Dornkart, Hans ten: Buch und Kind plus Erwachsene. In: Ebda., S.237-246.

[13])Vgl. Brednich, Rolf W.: Nacherzählen. Moderne Medien als Stifter mündlicher Kommunikation. In: Röhrich, Lutz; Lindig, Erika (Hrsg): Volksdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Tübingen 1989. S. 177-186. Er stellte fest, daß mündliches Erzählen als Kommunikationsform zu Unterhaltungszwecken abnimmt und immer häufiger durch Fernsehen ersetzt wird. Radio und Fernsehen sind so durchaus als neue "Erzähler des Volkes" anzusehen, die von gedruckten Medien, die sich dem lesenden "Zuhörer" nur über den Lesevorgang erschließen, ergänzt werden. Die so konsumierten Texte und Fernsehbilder sind heute oft Grundlage für Gesprächsinhalte. Brednich betont die Abhängigkeit alltäglicher Erzählinhalte breiter Schichten der Bevölkerung vom Angebot der Medien, insbesondere Fernsehen und Radio. Ihm erscheint der durch Bildmedien initiierte Strom an Kommunikation so übermächtig, daß er fragt, ob dieser die narrativen Kommunikationsinhalte nicht eines Tages völlig verdrängt. Vgl. dazu auch die von ihm edierten Sammlungen moderner Sagen, welche in der Bevölkerung als "wahre" Geschichten kursieren: Die Spinne in der Yucca-Palme, München 1990; Die Maus im Jumbo-Jet, München 1992; Das Huhn mit dem Gipsbein 1995.

[14])Nach einem kurzen Interesse an den Erscheinungs- und Rezeptionsweisen der populären Literatur in den 70er Jahren wurden dem Leseverhalten wenig volkskundliche Aufmerksamkeit geschenkt. Vgl. hierzu die Angaben in Anm. 2.

[15])Ihre Untersuchungen auf der Basis historischer Quellen gelten nach wie vor als grundlegend für eine historische, auf untere Bevölkerungsschichten ausgerichtete Lese(r)forschung. Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Frankfurt/M. 1970; Ders.: Die Lesestoffe der kleinen Leute. München 1976; Engelsing, Rolf: Analphabetentum und Lektüre. Stuttgart 1973; Ders.: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. In: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 10/1970. Frankfurt/M. 1970. Sp.945-960.

[16])Zur Quellenproblematik der historischen Leserforschung findet sich außerdem eine ausführliche Darstellung bei Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlung des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1993. S.303 ff.

[17])Vgl. Dann, Otto (Hrsg.): Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. München 1981.

[18])Langewiesche, Dieter: "Volksbildung" und "Leserlenkung" in Deutschland von der wilhelminischen Ära bis zur nationalsozialistischen Diktatur. In: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur 14, 1. Heft 1989. S.108-125. Ders.; Schönhoven, Klaus: Arbeiterbibliotheken und Arbeiterlektüre im Wilhelminischen Deutschland. In: Archiv für Sozialgeschichte XVI. Bonn 1976. S. 135-204. Langewiesche stellt anhand der Buch-Angebote heraus, welche Buch- und Leseangebote sozialistische oder konfessionelle Gruppen den Arbeitern der Weimarer Republik nahe bringen wollten, und welche politischen Ziele mit dieser "Leserlenkung" verfolgt wurden. Letztendlich gestalteten sich die Intentionen dieser Institutionen nicht weniger bildungsorientiert als die ihrer Vorläufer, der Lesegesellschaften. Im politischen Verständnis waren sie besonders im Bereich der Arbeiterbildung prägend und grenzten ihre Mitglieder streng voneinander ab.

[19])Limmroth-Kranz, Susanne: Arbeiterautobigraphien als Quelle zur Leserforschung. Hamburg 1986.

[20]) Nörrenberg, Constantin : Die Bücher- und Lesehalle. Eine Bildungsanstalt der Zukunft. Köln 1896; Vodosek, Peter: Arbeiterbibliothek und Öffentliche Bibliothek. Berlin 1975.

[21])Vgl. die drei Bände des großen Oral History Projektes im Ruhrgebiet für die Zeit 1930-60 unter der Leitung von Lutz Niethammer. Genaue Titelangaben finden sich in der Bibliographie.

[22])Vgl. Schön, wie Anm. 16, S.7.

[23])Nies, Fritz: Bahn und Bett und Blütenduft. Eine Reise durch die Welt der Leserbilder. Darmstadt 1991.

[24])Schön, wie Anm. 16, S.7 f., stützt sich in seiner Untersuchung zum einen auf herkömmliche, deskriptive Quellen, hat aber als Novum die bildliche Darstellung von Lesern verschiedenen Zeiten, vor allem aber aus dem 18. Jahrhundert, herangezogen. Prinzipiell geht es Schön darum, nachzuweisen, daß eine Veränderung der Körperhaltungen beim Lesen die "Sinnlichkeit" der Leseerfahrung verdrängt hat. Es fand ein zunehmende Verinnerlichung des Lesens statt, bis hin zu heute, wo "das Leseerlebnis ausschließlich im Kopf stattfindet".

[25])Nies, wie Anm. 23, hier zunächst S.3., vgl. auch S.5 u.126. Er verweist ausdrücklich auf sein Hauptinteresse, das nicht die Wiedergabe von Einzeltexten ist, denn "eben diese und ihre Wirkungsgeschichte jedoch stehen noch immer im Interessenzentrum der meisten rezeptions- und pressegeschichtlichen Forschungen". Mit Hilfe der Ikonografie zieht Nies seine Schlüsse zum Bild des Lesers in der Geschichte. Die verwendeten Bildbelege reichen vom Mittelalter bis in unsere Zeit. Die Quellenbasis bilden ebenfalls Abbbildungen, Drucke und Gemälde, deren Quellenwert und Notwendigkeit der systematischen Deutung Nies ausdrücklich betont: "Die Ikonographie verdient den Rang einer vollentwickelten Hilfswissenschaft innerhalb jener Rezeptions- und Funktionsgeschichte der Literatur (...)" S.26. Nach der Skizzierung des Wandels der Vorstellungen vom Leser in unterschiedlichen historischen Epochen, zeigt Nies anhand von Querschnittsanalysen Leserbilder die nicht "epochenfixiert, sondern themenzentriert angelegt sind vgl. S.87. Ein wichtiges Resultat für die heutige Bewertung des Lesens ist der Verweis auf die Werbung für Literatur bzw. für bestimmte Produkte unter Einsatz von Leserabbildungen.

[26])Vgl. Anm. 2, außerdem Nusser, Peter: Romane für die Unterschicht. Stuttgart 1973. Verwiesen sei auch noch auf ein Forschungsprojekt das Mitte der 70er jahre in Rotenburg/Wümme unter der Leitung von Klaus F. Geiger und Brigitte Schmutzler durchgeführt wurde. Hierfür befragte man ältere Schüler und Berufsschüler zu ihrem Leseverhalten. Vgl. Anm. 2 und Geiger, Klaus F.: Freizeitlektüre und Schule. Nachträge zu den Ergebnissen einer Schülerbefragung. In: Rotenburger Schriften 1977, Heft 47. S.7-19.

[27])Auch im Rahmen des Themas des Volkskundekongresses von 1981 "Umgang mit Sachen" wurden keine Beiträge zur Lese(r)forschung. Denkbar wären z.B. Arbeiten zum Umgang mit Büchern als Sachgütern, ihrer Wertschätzung und auch ihrer Aufbewahrung in speziellen Möbelstücken, bzw. die Bedeutung dieser mit Büchern gefüllten Möbel für die Besitzer.

[28])Jensen; Rogge, wie Anm. 2.

[29])Die ersten Bemühungen um verlegerische Buchmarktforschung erfolgten im 20. Jahrhundert auf die Initiative des Verlegers Eugen Diederichs. Zwischen 1913 und 1915 legte er den Büchern seines Verlages Umfragekarten bei. Hauptresultat dieser Umfrage war, daß die Wirkung von persönlichen Empfehlungen und der Pressearbeit häufiger zum Kauf animiert hatten als die Beratung eines Buchhändlers. Auch nach 1945 war das Beilegen von Umfragekarten ein gängiger Versuch der Verlagshäuse um etwas über ihre Leser und deren Motivationen zu erfahren.

[30])Fröhner, Rolf: Das Buch in der Gegenwart. Eine empirisch-sozialwissen-schaftliche Untersuchung. Gütersloh 1961.

[31])Girardi, Maria: Buch und Leser in Deutschland. Gütersloh 1965. Eine zentrale Frage dieser Untersuchung war die nach der Rolle des Buches im Bewußtsein der Leser. Nach der Leseintensität und der Lesehäufigkeit wurden drei Hauptgruppen gebildet: die eifrigen Leser, die Durchschnittsleser und die Nichtleser. Rasch wurde allerdings deutlich, daß diese Unterteilung ein zu grobes Raster für die Erfasssung der unterschiedlichen Leserschichten war.

[32])Die Ergebnisse von 1965 machten bereits deutlich, daß häufiges Fernsehen die Intensität des Lesens in der Freizeit nicht unbedingt beeinträchtigte. Unter den Befragten, die mehr lasen als andere, fand sich der gleiche Anteil von intensiven Fernsehteilnehmern wie unter solchen, die weniger lasen. Diese Ergebnisse spiegeln sich nahezu identisch in den jüngsten Untersuchungen der 80er Jahre wider. Auch in der aktuellen Forschung wird immer wieder auf die Korrelation des Bildungsgrades, höherer Schulbildung und der Herausbildung von Leseinteressen sowie einer Wertschätzung des Buches als Medium hingewiesen.

[33])Schmidtchen, Gerhard: Lesekultur in Deutschland. Frankfurt/M. 1968. Durchgeführt wurde diese Studie auch wieder vom Allensbacher Institut im Auftrag des Börsenvereins für den Buchhandel.

[34])Zitiert nach Franzmann, Bodo; Steinborn, Peter: Kommunikationsverhalten und Buch. Gütersloh 1978. S.158.

[35])Ebda. Unter den Jungen zeigten lediglich 19% überhaupt kein Interesse am Buch, unter den über 60-Jährigen wuchs der Anteil auf 39% an. Anhand des Grades der Schulbildung konnte ein Gefälle der Leseinteressen ermittelt werden. Die Randgruppen, wie Käufer mit schwachen Lesemotivationen oder eifrige Leser, die keine Bücher kaufen, fanden sich in allen Bildungsgruppen in erstaunlich gleichmäßigen Anteil.

[36])Schmidtchen, Gerhard: Lesekultur in Deutschland. Archiv für Soziologie und Wirtschaftsfragen des Buchhandels, 39/1974. Erneut wurden ca. 2.000 Personen über 16 Jahre befragt. Diesmal ergänzte eine Motivationsstudie mit einer Panel-Gruppe von 1.000 Personen die Untersuchung, um zu erklären, unter welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen das Buch als Kommunikationsmittel akzeptiert und genutzt wird.

[37]) Vgl. Anm. 31.

[38])Schmidtchen, wie Anm. 36. Die Analyse der von mir geführten Interviews soll hierzu ergänzende Tendenzen aufzeigen. Es ist zu fragen, ob der sich in Schmidtchens Ergebnissen abzeichnende Trend von meinen älteren Gesprächspartnern bestätigt werden kann.

[39])So auch die Untersuchung von Mayer, German: Buch und Lesen. In: BB 81/1974, S.3-36. Es wurden 2.025 Personen befragt. Anders als bei den Vorläufern bemühte man sich hier im Zuge einer Nachuntersuchung eine Typologie der Buchkäufer nach ihren Haupteinkaufsquellen zu ermitteln. 42% der Befragten hatten in den letzten zwölf Monaten nach eigenen Angaben ein Buch gekauft. Als sekundäre Einkaufsquelle wurden von 22% eine Buchgemeinschaft, von 24% ein Kaufhaus und von 12% Schreibwarengeschäfte angegeben. Die Bildungsstruktur der Warenhauskäufer entspricht etwa der des Bevölkerungsdurchschnitts; bei Buchclubmitgliedern sind die mittleren Bildungsschichten besonders stark vertreten, ähnlich der Klientel der Sortimentsbuchhandlungen. In dieser Untersuchung wurde speziell auf die Kaufgewohnheiten von Buchclubmitgliedern eingegangen und festgestellt, daß 58% der Mitglieder den Sortimentsbuchhandel als zweite Einkaufsquelle nennen. Daraus ließ sich schließen, daß die Buchgemeinschaften dem Buchhandel keine Kunden entzogen, sondern ihm viel mehr neue Käuferschichten zuführten. Buchklubmitglieder gehörten den Ergebnissen nach zu den häufigen und regelmäßigen Buchkäufern. In den mittleren Bildungsschichten, denen sie entstammten, fanden sich weniger Hauptschulabsolventen als vielmehr Personen mit mittlerer Reife, Abitur und Studienabschlüssen.

[40])Noelle-Naumann, Elisabeth: Buchhändler und Buchkäufer. Frankfurt/M. 1978. Es wurden 1.972 Interviews geführt, also die Größenordnung der Vorgängerstudien beibehalten. Wie zuvor, wurde danach gefragt ob in den letzten zwölf Monaten ein Buch gelesen oder gekauft worden sei. Die dritte Allensbachuntersuchung von 1978 symbolisierte eine weiterführende Stufe der Buchmarktforschung. Im Gegensatz zu den beiden ersten Untersuchungen, die eine "Diagnose des Zustandes der Lesekultur in Deutschland" liefern sollten, konzentrierte sich diese auf das Thema "Distribution", daß heißt auf die Untersuchung von Stärken und Schwächen des Buchhandels, seiner Vertriebswege, wie die Buchgemeinschaft oder das Warenhaus als Einkaufsquelle für Bücher im Zusammenhang mit dem Käuferverhalten.

[41])Ein Vergleich der Zahlenangaben der genannten Untersuchungen wird dadurch erschwert, daß die Studien nicht aufeinander aufbauend konzipiert, sondern je nach erhebendem Institut unterschiedliche Erhebungsansätze und Befragungsmethoden verwendet wurden. Dies macht eine Aufzeichnung und Strukturierung von Entwicklungslinien geradezu unmöglich. Vgl. Franzmann, Bodo: Plädoyer für Buch und Lesen. Zur gesellschaftlichen Begründung der Leseförderung. In: Deutsche Lesegesellschaft (Hrsg.): Buch und Lesen. Gütersloh 1978. S.167-191, hier S.169/170. Er weist in seiner Kritik an den demoskopischen Untersuchungen darauf hin, daß diese zu lange auf das Medium Buch fixiert waren und dabei die Tatsache vernachlässigten, daß das Bücherlesen eine von mehreren Kommunikationsaktivitäten der Nutzer ist. Ihre Erhebungsfragen, die vielfach von einer einseitigen und traditionellen Vorstellung vom Buchleser bestimmt sind, erfassen die mögliche Vielfalt der Verhaltensweisen verschiedener Benutzergruppen der gedruckten Medien nicht sehr differenziert.

[42])Die bereits mehr als 20 Jahre existierenden, regelmäßigen Befragungen zu Lese- und Kaufgewohnheiten wurden so ergänzt durch die Bemühungen um eine Käufertypologie und die Erfassung der Bedeutung der Persönlichkeitsstärke für die Nutzung von Büchern. Noelle-Naumann, Elisabeth; Schulz Rüdiger: Typologie der Käufer und Leser. Archiv für Soziologie und Wirtschaftsfragen des Buchhandels LXII/1987; Leseverhalten und Persönlichkeitsstärke. Neue Erkenntnisse zur Sozialpsychologie des Lesens. Auszug aus der SPIEGEL-Dokumentation "Persönlichkeitsstärke". Archiv für Soziologie und Wirtschaftsfragen des Buchhandels LVII/1984.

[43])Da die Buchlektüre selten Nebentätigkeiten gestattet, wurde dem Buch eine Sonderstellung zugewiesen. Auch bei der Frage nach dem Nutzungswert gegenüber den audiovisuellen Medien steht das Buch an marginaler Position. Unter den hier untersuchten Kommunikationsformen nahm das Buch eine Mittlerstellung zwischen unmittelbarer Kommunikation im Gespräch und vermittelter Kommunikation durch Massenmedien ein. Während dem Gespräch die Attribute "ich-bezogen", "unvermittelt" und "aktiv" zugeordnet wurden, galten die Massenmedien als "extrovertiert", "aktuell", "kurzfristig verwertbar" und "leicht zugänglich". Das Buch hielt man demgegenüber für vorwiegend introvertiert, nicht aktuell, langfristig verwertbar und schwer zugänglich. Entsprechend dieser Mittlerstellung konkurriert es nach wie vor nach beiden Seiten: affektiv mit Hörfunk und Fernsehen, die stärkere Reize bieten können und kognitiv mit dem persönlichen Gespräch, das als eine noch intensivere und glaubwürdigere Kommunikation gewertet wird als das Buch.

[44])Saxer, Ulrich; Bonfadelli, Heinz; Hättenschwiler, Walter: Die Massenmedien im Leben der Kinder und Jugendlichen - eine Studie zur Mediensozialisation im Spannungsfeld von Familie, Schule und Kameraden. Zug 1980. Hier wird erstmals ein differentiertes Bild der Rolle der Medien im Alltag von Schülern - privat wie in der Schule - gezeichnet.

[45])Postmann, Neil: Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt/M. 1983; Ders.: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt/M. 1985.

[46])Vgl. Franzmann, Bodo: Leseverhalten im Spiegel neuerer Untersuchungen. In: Media Perspektiven 2/1989. S. 82-89, hier S.87. Er weist darauf hin, daß die Erhebungen der verschiedenen demoskopischen Institute oder Fragemodi der Interviews eigentlich nur genau verglichen werden können, wenn auf differierende Frageformulierungen geachtet wird. So ergeben sich z.B. für die Frage nach der generellen Buchnutzung, höhere Daten, als für die Frage nach der Selbsteinschätzung der Buchleser. Vgl. hierzu auch Schön, wie Anm. 16, S.58. Er verweist auf die oft sehr unterschiedlich gesetzten Altersgrenzen, deren Senkung mit höheren Angaben zu Lesehäufigkeit korreliert.

[47])Bonfadelli, Heinz u.a.: Jugendliche und Medien. Eine Studie der ARD/ZDF Medienkommission und der Bertelsmannstiftung. Frankfurt/M. 1986.

[48])Im Vergleich mit den Schweizer Daten von 1975 und 1980 konstatierte man in dieser Studie einen Rückgang der Lesehäufigkeit bei Jugendlichen. Vgl. Franzmann, wie Anm. 45. S.89 und 91: Es wurde ein geringer Rückgang der Lesehäufigkeit bei Kindern bis 9 Jahren festgestellt, ein Rückgang von 19 % auf 17% bei den 12- bis 15-jährigen. Für das Lernen beim Fernsehen stellte es sich als unwichtig heraus, ob jemand regelmäßig oder unregelmäßig fernsah.

[49])Hurrelmann, Bettina; Nowitzki, Klaus; Possberg, Heinrich: Familie und erweiterertes Medienangebot. Bielefeld 1988. Die Analyse Hurrelmanns basiert auf der Aufarbeitung der Geschichte des Lesens und der familiären Alltagskultur sowie intensiven Beobachtungen des Mediennutzungsverhalten in den Familien mit und ohne Kabelanschluß.

[50])Ebda., S.94.

[51])Köcher, Renate: Familie und Lesen. Eine Untersuchung über den Einfluß des Elternhauses auf das Leseverhalten. Frankfurt/M. 1988. Die Studie entstand mit Unterstützung des Bundesfamilienministeriums. Es wurden 2.128 Interviews bei einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung ab 16 Jahre durchgeführt.

[52])Ebda., W. 2278: "Die Untersuchung konzentriert sich auf das Lesen von Büchern, während die Nutzung von Zeitungen und Zeitschriften weitgehend aus dem Untersuchungsgegenstand ausgeklammert ist. Die Untersuchung geht von der These aus, daß die Beziehung zu Büchern von drei Einflüssen entscheidend geprägt wird, nämlich von der Lesekultur und Leseförderung im Elternhaus, von der Ausbildung und von dem späteren sozialen Umfeld des Erwachsenen."

[53])Ebda., W 2305/2306. W. 2303 u. 2309: Zu dem bereits erwähnten unparitätischen Einfluß von Elternhaus und Schule führt Köcher aus: "Das Buch repräsentiert für weite Kreise der Bevölkerung in erster Linie irrelevante Werte und leistet keinen Beitrag zu relevanten Werten (...) aus dieser verkopften Sicht des Lesens resultiert sein niedriger Stellenwert in der Hierarchie von Erziehungszielen."

[54])Kommunikationsverhalten und Medien. Lesen in der modernen Gesellschaft. Hrsg.: Saxer, Ulrich; Fritz, Angela; Langenbucher, Wolfgang. Gütersloh 1989.

[55] )Vgl. Fritz, Angela: Lesen im Medienumfeld. Eine Studie zur Entwicklung und zum Verhalten von Lesern in der Mediengesellschaft. Gütersloh 1991. Es handelt sich hierbei um die sekundärstatistische Auswertung der Datensätze der vorhergehenden Studie: Fritz, wie Anm. 53. Die Typen a) und b) ziehen das Buch ergänzend zu den regelmäßig genutzten Medien heran. Bei den Typen c) und d) nehmen die Printmedien im Gegensatz zu Büchern einen festen Platz im Mediengefüge ein, ohne daß sich eine Ankopplung an höhere Bildungschichten feststellen läßt.

[56])Berg, Klaus; Kiefer, Marie-Luise (Hrsg.): Massenkommunikation I-V. Eine Langzeitstudie zur Mediennutzung und Medienbewertung. Mainz 1978; Frankfurt/M. 1982 und 1987; Baden-Baden 1992 und 1996.

[57])Frank, Bernward; Maletzke, Gerhard; Müller-Sachse, Karl-Heinz: Kultur und Medien. Eine Studie der ARD und ZDF-Medienkommission. Baden-Baden 1991. Hier stehen das Leseinteresse, die Bücherkenntnisse und die Leseerfahrungen von Belletristikleser im Verhältnis zur übrigen Mediennutzung im Mittelpunkt der Studie. Als Resultat wurden neben den 19,5% Nichtlesern unter der Bevölkerung über 16 Jahre auch 32,9% Exleser ermittelt, die nach der Schulzeit aufhörten zu lesen. Die restlichen 50% der Gesellschaft bestünden demnach aus drei Typen von Belletristiklesern: Unterhaltungslesern (16,3%), Bildungslesern (19,9%) und den Literaturkennern (11,3%).

[58])Ebda., S.328: "Sicher ist..., daß Nicht-Leser auch durch Verfilmungen nicht zu Lesern werden. (...) Und das Reichweitenmedium Fernsehen dort die Grenze seiner Wirksamkeit (findet), wo es auf eingeübtes Medienverhalten trifft. (...) Die Chancen des Mediums, aus einem Seher einer Literaturverfilmung einen Leser der literarischen Vorlage zu machen, sind hier ohne ein bereits vorgegebenes lesefreundliches Umfeld gering."

[59])Ebda., S.281 und S.328. Diese Aussage findet sich in Ansätzen bereits in den Vorläuferstudien wieder, in denen auf die höhere Aufnahmekapazität von Viellesern aus Dokumentar- und Informationssendungen hingewiesen wurde. Statt umfangreicher Leseförderung setzten die Autoren auf die Möglichkeiten der elektronischen Medien zur Vermittlung von Wissen und Bildung. Diese wiederum werden nur gemeinsam mit den Lesemedien wirksam. Vgl. Fritz, Angela: Leseforschung in Österreich. In: Lesen im internationalen Vergleich. Mainz 1990. S.102-120.

[60])Frank; Maletzke; Müller-Sachse, wie Anm, 56, S. 281.

[61])Siehe hierzu die Publikation der Stiftung Lesen (Hrsg.): Lesen im internationalen Vergleich: Ein Forschungsgutachten der Stiftung Lesen für das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft. Teil 1. Mainz 1990. Auslöser für diese Studie war eine Anfrage der SPD im Bundestag zum Stand der Forschungen zum Leseverhalten in Deutschland.

[62])Ebda., S.23 u. 25, 55. Allerdings konstatiert die Studie auch seit 1986 eine deutliche Hinwendung der zur Sozialisationsperspektive in der leserbezogenen Kommunikationsforschung. Vgl. auch S. 30: Generelle Kritik an den bis dato erschienen Buchmarktforschungen wird unter dem Hinweis geübt, daß sich die wenigsten Studien der letzten 50 Jahre dazu eignen, eine exakte "Beschreibung von Entwicklungstendenzen im Medienbereich und deren Auswirkungen auf das Leseverhalten zu liefern.

[63])Fritz, Angela: Was ist Lesen? Orientierungsstudie zur Analyse des Leseverhaltens in Österreich. Wien 1987. Dies.: Lesen in der Mediengesellschaft. Wien 1989. Dies.; Hörburger, Anita: Individuelle Kommunikationsstrukturen, Information und Wissen. Wien 1990.

[64])Auch die Bertelsmann Stiftung fördert Projekte zur Lese(r)forschung, unter anderem speziell zur Vermittlung von Lesesozialisation in der Elementar- und Sekundarstufe. Exemplarisch wurden Projekte an verschiedenen Grundschulen Niedersachsens durchgeführt, in der Absicht neue Schwerpunkte und Ideen für den Leseunterricht anzuregen. Lesen in der Grundschule. Ein Lehrerfortbildungsprojekt des Landes Nordrhein-Westfalen in Zusammenarbeit mit der Bertelsmann Stiftung. Gütersloh 1991; Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Mehr als ein Buch. Leseförderung in der Sekundarstufe. Gütersloh 1996. Im Rahmen der Projekte wurden die Multiplikatoren des Leseunterrichtes fortgebildet und angeregt den Erstleseunterricht zu intensivieren. Lehrer sollten dafür sensibilisiert werden, "die Bedeutung des Lesens innerhalb des Zusammenhangs von Medientätigkeiten neu zu bestimmen und die Lese-Erziehung als wichtigen Teil einer umfassenden Medienerziehung stärken". Siehe hierzu: Hurrelmann, Bettina: Leseförderung - eine Daueraufgabe. In: Ebda., S. 13-34. Hier S.13.

[65])Lesesozialisation. Band 1: Hurrelmann, Bettina; Hammer, Michael; Nieß, Ferdinand: Leseklima in der Familie. Band 2: Bonfadelli, Heinz; Fritz, Angela; Köcher, Renate: Leseerfahrung und Lesekarrieren. Gütersloh 1993. Hier Band 1, S.2. Die einzelnen Studien bauen auf den bereits erwähnten Untersuchungen von Frank; Maletzke; Müller-Sachse, wie Anm. 57 sowie von Fritz, Angela: Lesen im Medienumfeld. Eine Studie zur Entwicklung und zum Verhalten von Lesern in der Mediengesellschaft auf der Basis von Sekundäranalysen zur Studie "Kommunikationsverhalten und Medien". Gütersloh 1991 auf.

[66])Lesesozialisation, Band 1., wie Anm. 64, S.7/8. Die Resultate dieser Einzelstudien lassen deutlich werden, daß für das Lesen und die Lesesozialisation noch längst nicht alle Kapazitäten und Möglichkeiten der sozialisierenden Institutionen ausgeschöpft sind. Näher gehe ich hierauf im IV. Kapitel ein.

[67])Vgl. hierzu die Ergebnisse der Studie von Berg; Kiefer: Massenkommunikation IV wie Anm. 56, und die Ergebnisse der Untersuchungen vom Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugendliche und Erwachsene '85. Leverkusen 1986; Dies. (Hrsg.): Jugend '97. Zukunftsperspektiven. Gesellschaftliches Engagement. Politische Orientierungen. Opladen 1997. Fritz, Angela; Süess, Alexandra: Lesen. Die Bedeutung der Kulturtechnik Lesen für den Kommunikationsprozeß. Konstanz 1986, hier S.16/17: Aufgrund der bis dahin erhobenen Untersuchungen läßt sich die Bevölkerung grob in je ein Drittel Viel-Leser, Wenig-Leser und Nicht-Leser einteilen. Eine zwar recht unscharfe Dreiteilung, die sich aber in jüngeren Studien bestätigte. Obwohl sich nach wie vor ein positives Image für Bücher und Lesen nachweisen läßt, ist mit steigendem Lebensalter ein kontinuierliches Absinken in der Häufigkeit der Printmediennutzung zu konstatieren.

[68])Die Darstellung folgt hier weitgehend den Ergebnissen des BAT-Freizeitforschungsinstituts. Vgl. Opaschowski, Horst; Raddatz, Gerhard: Freizeit im Wertewandel. Die neue Einstellung zu Arbeit und Freizeit. Hamburg 1982.

[69])Saxer, Ulrich; Landolt, Marianne: Medien-Lebensstile. Lebenstilmodelle von Medien für die Freizeit. Zürich 1995. Sie sehen Massenmedien als Vermittler kultureller Werte, Normen und Verhaltensweisen, die Lebenstilmodelle für einzelne Freizeitbereiche anbieten und aufzeigen. Ebda., S.11: "Medien - insbesondere Massenmedien - bieten (...) als Sozialisationsinstanzen Problemlösungsangebote. Gleichzeitig werden in ausdifferentierten Gesellschaften, in denen die Individuen immer wieder vor neuen Situationen stehen, möglichst viele aktualisierbare Rollen gefordert. In dieser Hinsicht wirken die Massenmedien integrierend indem sie milieuunabhängige Orientierungsmuster, d. h. ein potentielles Rollen-Selbst der Rezipienten, aufzeigen.

[70])Vgl. Angaben in Opaschowski, Horst: Herausforderung Freizeit. Perspektiven für die 90er Jahre. Hamburg 1990, hier S. 22. Außerdem ders.; Raddatz, wie Anm. 68. Im Zuge der Geselligkeit, gehen die Menschen bevorzugt essen, ins Kino oder pflegen die Kommunikation mit Feunden. Meines Erachtens haben diese Angaben für das Feierabend- und Freizeitverhalten unter der Woche nur beschränkt Gültigkeit. Diese Aussage trifft in der Hauptsache auf erwachsene Mediennutzer und die Zeit nach 20 Uhr zu, denn vorher wird - gerade von Kindern und Jugendlichen - nach wie vor viel ferngesehen.

[71])Die Sozialforschung geht davon aus, daß die Persönlichkeit eines Menschen und seine Neigungen im wesentlichen mit dem Erreichen des Erwachsenenalters ausgeprägt sind. Kindheits- und Jugenderfahrungen wird eine größere Einflußnahme zugesprochen als der späteren Sozialisation, denn die statistische Unwahrscheinlichkeit einer grundlegenden Persönlichkeitsveränderung korreliert mit steigendem Alter. Entsprechend setzt auch das BAT-Freizeitforschungsinstitut voraus, daß etwa 80% aller grundlegenden Interessen für die Freizeitgestaltung bis zum Alter von ca.25 Jahren ausgebildet und im Alter nur noch wenig ergänzt werden, soweit nicht allgemeine Trends sie beeinflussen - eine Tatsache, die für das Leseverhalten nicht derart absolut gilt. Einflüsse auf das Lesen können auch noch später im Lebenslauf wirksam sein, weil in Kapitel VI. über die späten und unerwarteten Leser, deutlich werden wird.

[72])Opaschowski, wie Anm. 70, S.3.

[73])Ebda., S.4: Weil die eigene Freizeit als knappes Gut angesehen wird, gilt sie als kostbar und wertvoll. Während der Arbeitszeit wird z.B. bereits die Freizeitgestaltung des Wochenendes geplant. S.14: Obwohl sie objektiv über mehr arbeitsfreie Zeit verfügen, befinden sich die Arbeitnehmer durch das Bemühen, möglichst vielfältige Freizeitaktivitäten wahrzunehmen und wenig zu verpassen, im regelrechten "Freizeit-Streß". Für etwa ein Drittel aller Berufstätigen in der BRD zählt der Freitag bereits zum Beginn des Wochenendes. Er wird benutzt, um Einkäufe zu erledigen, Verabredungen zu treffen; auch Kino- und Theaterbesuche etc. werden häufig auf den Freitagabend gelegt. Die alte Funktionseinteilung zwischen Samstag (Tag des Erledigens und des Besorgens sowie des Arbeitens für sich selbst) und Sonntag (Tag der vollständigen Ruhe) gilt nicht mehr. Vgl. auch Scheuch, Erwin K.: Heilig ist nur die Freizeit. In: Die Zeit 10, 4.3.88, S.35: Samstag und Sonntag sind auswechselbar geworden, das Wochenende besteht so für die meisten Erwerbstätigen aus 1/3 des Freitags und den beiden ganzen Tagen Samstag und Sonntag.

[74])Opaschowski, wie Anm. 70, S.15ff: Diese Problematik verschärft sich für viele Arbeitnehmer, wenn es abgesehen von der täglichen und wöchentlichen Freizeit um die Urlaubsplanung geht. Entsprechend den Arbeitszeitverkürzungen und Tarifverhandlungen ist auch die Anzahl der Urlaubstage gestiegen. Besonders beliebt sind Kurzreisen. "Jeder einzelne Tag woanders bringt was."

[75])Ebda., S.40: Die Konsumhaltung gegenüber den finanziellen Aufwendungen für Freizeit und Hobby ist positiv, denn für diese "Lebensfreude ist nichts zu teuer". Erwähnenswert erscheint in diesem Zusammenhang auch die Feststellung Opaschowskis, daß das Prinzip der Freiwilligkeit der Freizeit weder Vorhaltungen, zwingende Vorschriften, Anweisungen oder Apelle verträgt, die nicht motivierend sind. Vgl. Ebda., S.42.

[76])Ebda., S.47-49. Siehe hierzu auch die Auswertung von Ulrich Wechsler: In: Bertelsmann Briefe 114/1984, hier S.28: Auch wenn nur 14% der Befragten angaben regelmäßig Bücher in der Freizeit zulesen, so wurde der Freizeitwunsch "mal wieder zu lesen" bei allen an erster Stelle genannt.

[77])Opaschowski, wie Anm. 70, S.48. Die in der Freizeit angestrebte "Sinnerfüllung" teilt er in vier Bereiche: a) mehr Zeit für sich haben, b) mehr Zeit mit anderen, c) mehr Zeit für Weiterbildung, d) mehr Zeit zum Tätigsein.

[78])Ebda., S.57: Dementsprechend wird bei Umzügen oder beruflich bedingten Standortwechseln der zu erwartende Freizeitwert einer Region hoch angesetzt: "Eine Region muß heute Freizeitattraktivitäten bieten, um die Arbeitnehmer halten und neu gewinnen zu können."

[79])Ebda., S. 61. Auf die Bedeutung und Problematik der sinnvollen Freizeitgestaltung und den -angeboten für Jugendlichen gehen auch Baacke, Dieter; Sander, Uwe; Vollbrecht, Ralf ein. In: Lebenswelten Jugendlicher. Band 1 (Lebenswelten sind Medienwelten) u.2. (Lebensgeschichten sind Mediengeschichten). Opladen 1990. Sie betonen vor allem das Angebotsgefälle zwischen Großstadt, Kleinstadt und Dorf.

[80])Siehe hierzu auch ausführlicher Nahrstedt, Wolfgang: Freizeitpädagogig in der nachindustriellen Gesellschaft. Band 1 u. 2. Darmstadt und Neuwied 1974. Hier S.23f. Seiner Auffassung nach muß die Medienpädagogik in allen drei Ebenen berücksichtigt werden. Er prägte den Begriff des Freizeitberaters und Animateurs für gelenkte Freizeitgestaltung. Für Nahrstedt steht Freizeit soweit im Brennpunkt öffentlichen Interesses, daß sie mittlerweile die Qualität eines "Interpretationsparadigmas von Gesellschaft" besitzt. Ebda., S.17.

[81])Für zahlreiche Arbeitnehmer stellt das Fernsehen eine Anregung zum Meinungsaustausch mit Kollegen/Innen am Arbeitsplatz dar. "Hast Du gestern ... gesehen?" ist eine häufige Frage. Das Wissen um gleiche Inhalte schafft Gemein-samkeiten. Vgl. hierzu auch Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt/M und New York 1993. Auch Schulze konstatiert den gesellschaftlichen Trend zum "mehr Erleben". Er spricht von einer "Erlebnisgesellschaft", die in ihrem Medienverhalten immer weniger schichtenspezifisch agiert.