- 300 Jahre St. Petersburg -
Russland und die "Göttingische Seele"

 
 
 


Einleitung

Russland und die "Göttingische Seele"

Alexander PuschkinKein Geringerer als Alexander Puschkin, der größte russische Dichter, hat den Begriff "Göttingische Seele" geprägt. In seinem Versroman "Eugen Onegin" tritt dem Titelhelden der junge Wladimir Lenski gegenüber, erst als Freund, dann als Antipode. Er hat im "nebeligen Deutschland", offenbar in Göttingen, studiert, verehrt Kant, ist von Freiheitsliebe durchdrungen und träumt davon, die ganze Welt zu beglücken. Lenski, dieser Schwarmgeist und empfindsame Dichter, ist, nach den Worten Puschkins, "mit einer wahrhaft Göttingischen Seele" ausgestattet. Puschkin hat damit eine Formel gefunden, die die Fülle fruchtbarer Wechselbeziehungen zwischen Russland und Göttingen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert auf den Begriff bringt. Ohne jemals in Göttingen geweilt zu haben, synthetisierte Puschkin in dieser Formel Erfahrungen und Vorstellungen, die er durch Freunde und Lehrer gewonnen hatte, welche in der Zeit zwischen 1802 und 1812 in Göttingen studiert hatten.

Die Ausstellung "Russland und die 'Göttingische Seele'" geht über diese Phase lebendigster göttingisch-russischer Beziehungen weit hinaus. Sie dokumentiert aus Anlass der 300. Wiederkehr der Gründung St. Petersburgs sinnfällige Ereignisse und Werke samt ihren Trägern und Urhebern im 18. und 19. Jahrhundert. Das Erstehen St. Petersburgs aus dem karelischen Sumpf, der an ein neues Weltwunder gemahnende rasche Aufbau der Newa-Metropole und die Gründung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 1725 geschahen aus dem gleichen Ansporn heraus, aus dem auch in Göttingen die Georgia Augusta 1734 und die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften 1751 geschaffen worden waren: aus dem Geiste der Aufklärung. Diese ideengeschichtlichen Parallelen und die Zeitgleichheit, in der sie sich abspielten, schufen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert eine besondere gegenseitige Wahrnehmung, die sehr bald in zahlreichen konkreten Beziehungen ihren Ausdruck fand.

Es sind dies Kontakte, die im Rahmen des Aufblühens der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen rasch an Vielfalt und Intensität gewannen. Am Beginn der göttingischen Tradition des wissenschaftlichen Austausches mit Russland steht Albrecht von Haller, der - wie viele Göttinger Gelehrte nach ihm - eine umfangreiche Korrespondenz mit in Russland wirkenden Wissenschaftlern pflegte und in den "Göttingischen Gelehrten Anzeigen" Werke russischer Wissenschaftler anzeigte und rezensierte. Während Haller selbst nie russischen Boden betrat, konnte schon wenige Jahre später eine Reihe bedeutender Göttinger Gelehrter nach Russland gewonnen werden. Umgekehrt wurde die Leinestadt in zunehmendem Maße das Ziel russischer Studenten, die entweder zum Kavaliersstudium kamen oder, öfter noch, mit einem festen Studienauftrag an die Georgia Augusta "abgeordnet" wurden. Diese russischen Studenten, "Göttinger Russen" ("russkie gettingency") genannt, wieder trugen das in Göttingen erworbene Wissen nach Russland zurück und verbreiteten es in Schriften und Diskursen. Sie alle, Göttinger Gelehrte wie russische Studenten, trugen wechselseitig zu der Entwicklung des russischen Bildungs- und Wissenschaftslebens bei: so Anton Friedrich Büsching, der als Leiter der St. Petersburger Petrischule die vormals unbedeutende Lehranstalt zu einer wichtigen Bildungsinstitution erhob, oder Johann Beckmann, der, einst ebenfalls an der Petrischule tätig, nach seiner Rückkehr in Göttingen seinen russischen Studenten das Lehrgebäude der "Technologie" vermittelte, welches diese in Russland verbreiteten. Nicht zuletzt waren ehemalige Göttinger Studenten wie Peter Simon Pallas oder Göttinger Professoren wie Georg Moritz Lowitz als Leiter und Teilnehmer der Forschungsexpeditionen der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften direkt an der wissenschaftlichen Erschließung des Russischen Reiches, einem der vordringlichsten zeitgenössischen Aufgabenbereiche, beteiligt.

Breiten Raum widmet die Ausstellung zwei Persönlichkeiten, deren Bedeutung für die göttingisch-russischen Wechselseitigkeiten kaum überschätzt werden kann: dem ehemaligen Göttinger Studenten Baron Georg Thomas von Asch und dem Göttinger Gelehrten August Ludwig (von) Schlözer. Asch, unter Haller promoviert, pflegte nach seiner Rückkehr nach Russland als einzigartiger Gönner seiner einstmaligen Alma Mater über ein halbes Jahrhundert lang die Verbindung zu Göttingen und übersandte der Georgia Augusta eine Vielzahl von Handschriften, Büchern und Landkarten sowie Münzen, Kunstgegenstände und ethnographische Fundstücke als Geschenke. Die so in Göttingen entstandene "Bibliotheca Aschiana" begründete das Renommee ihrer Bibliothek als einer einzigartigen Sammlung der slawischen Literatur des 18. Jahrhunderts; die auf die Göttinger Universitätsinstitute verteilte "Sammlung Asch" gilt noch heute als wahres "Museum der russischen Wissenschaftsgeschichte des 18. Jahrhunderts" (Buchholz). Schlözer, zunächst als Adjunkt, später als Professor an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften tätig, verfasste in Russland und nach seiner Rückkehr nach Göttingen eine Reihe grundlegender Werke zur russischen Geschichte und Sprache. Er war die überragende zeitgenössische Autorität in russischen Angelegenheiten und trug maßgeblich dazu bei, dass die Georgia Augusta sich zu dem wohl bedeutendsten Zentrum der Russlandkunde in damaligen Deutschland entwickelte. Seinem Einfluss konnten sich auch seine Nachkommen nicht entziehen, die auf verschiedene Weise die Verbindung zu Russland aufrecht erhielten.

Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass der Kurator der Moskauer Universität sich mit der Bitte um die Empfehlung von Wissenschaftlern für die neugegründeten russischen Universitäten gerade an einen Göttinger Gelehrten wandte. Über die Vermittlung von Christoph Meiners, dessen Werk "Über die Verfassung und Verwaltung deutscher Universitäten" die Statuten der russischen universitären Neugründungen prägte, gingen weitere Göttinger Gelehrte nach Russland, so Johann Gottlieb Buhle, der die Moskauer Universitätsbibliothek nach bewährtem göttingischem Vorbild reorganisierte.

Schließlich war es neben anderen auch der Name Schlözers, der eine Vielzahl russischer Studenten nach Göttingen zog: die Brüder Alexander, Nikolai und Sergej Turgenew, Andrei Kaissarow und Wilhelm von Freygang - darunter enge Freunde Puschkins. Vor allem Naturrechtslehre, Staatsrecht, Kameralistik, Steuertheorie und Staatenkunde (Statistik), aber auch historische Quellenkritik und ästhetische Theorien erhielten so aus Göttingen entscheidende Impulse. Der russische Diskurs über Leibeigenschaft und Bauernbefreiung wurde weitgehend aus den göttingischen Geschichts-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften gespeist. Das Naturrecht wurde in Russland zuerst von Alexander Kunizyn, die Philosophie des deutschen Idealismus von Alexander Galitsch dargestellt - beide Göttinger Studenten, beide Lehrer Puschkins. Und schon Jahre bevor Puschkin seine aus ihren Erfahrungen und Vorstellungen gewonnene Formel von der "Göttingischen Seele" prägte, wurde eine erste göttingisch-russische literarische Verbindung geknüpft, über den Göttinger Hainbunddichter Gottfried August Bürger nämlich, dessen "Lenore" in ihren ersten russischen Übersetzungen buchstäblich Epoche machte und die russische Kunstballade überhaupt erst begründete.

Im späteren 19. Jahrhundert gewannen Mathematik und Naturwissenschaften zunehmende Bedeutung für die göttingisch-russischen Beziehungen. Beredte Zeugnisse dafür sind die russischen Beziehungen von Carl Friedrich Gauß oder Friedrich Wöhler, das Werk von Friedrich Konrad Beilstein oder die Promotionen bedeutender russischer Wissenschaftlerinnen wie Sofja Kowalewskaja und Julia Lermontowa an der Georgia Augusta, die einen wichtigen Schritt auf dem Wege zum Frauenstudium markieren.

Es ist an der Zeit, sich der fruchtbaren wechselseitigen Anregungen und Rezeptionen unvoreingenommen zu versichern. Der offene Austausch geistiger Güter und die wechselseitigen Aufenthalte bedeutender Persönlichkeiten in Göttingen oder in Russland hat den Nachkommen eine überreiche Ausbeute und Tradition hinterlassen, die es ins Bewusstsein zu rufen gilt. Es ist dies eine Tradition, die mit dem Ausbruch des Ersten und des Zweiten Weltkrieges aus politischen Gründen ein vorläufiges Ende fand und an die erst nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur wieder angeknüpft werden konnte. So verdienen es auch die ebenfalls in der Ausstellung dokumentierten heutigen Wissenschaftsbeziehungen zwischen Göttingen und der Russischen Föderation, in gutnachbarlichem Vertrauen ausgebaut und gefördert zu werden.


Die CD-ROM zur Ausstellung bietet eine Fülle verschiedenartiger Exponate, darunter viele Unikate oder sehr seltene Objekte, welche diese Beziehungen in all ihrer Vielfalt dokumentieren. Rara-Drucke, wertvolle Handschriften und prächtige Urkunden sind hier ebenso zu nennen wie historische Landkarten, Stadtpläne und Stadtansichten, Gemälde, Kupferstiche, Zeichnungen und Photographien, Tier- und Pflanzenpräparate, Fossilien und Mineralien, ethnographische Gegenstände, Medaillen, Orden, wissenschaftliche Instrumente und vieles andere mehr. Der Großteil der gezeigten Stücke entstammt der Göttinger "Sammlung Asch", den Schätzen der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek und anderer Göttinger Institutionen. Aber auch weitere bedeutende Museen, Archive, Bibliotheken und Privatpersonen aus dem In- und Ausland, vorrangig aus der Russischen Föderation, haben eine Reihe von Stücken zur Verfügung gestellt, welche die Ausstellung in erheblichem Maße bereichern.

Die Deutschen, die sich seit langem mit Bewunderung und Schaudern an der "russischen Seele" berauscht haben, revanchieren sich gleichsam mit dieser Ausstellung, indem sie auf die "Göttingische Seele" und ihre Ausstrahlung in Russland hinweisen. Dabei ist Puschkin ihr wichtigster Zeuge.

Silke Glitsch, Reinhard Lauer

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